Aus: staat & gewalt, Beilage der junge Welt vom 03.07.2013

Türkei: Neoliberaler Polizeistaat

Das Tränengas wird knapp – Regierung bestellt Nachschub. Und ordert 60 neue Wasserwerfer

Nick Brauns

 

Fast vier Wochen lang haben bis dahin nicht gekannte Massenproteste die Türkei erschüttert, insbesondere in den Großstädten im Westen des Landes. Beteiligt daran waren so unterschiedliche Bevölkerungsgruppen wie Kemalisten und Kommunisten, Aleviten, Kurden und Gewerkschafter – selbst vorher verfeindete Fußballfans rivalisierender Vereine versöhnten sich im Kampf gegen die Polizeigewalt. Ausgelöst wurde diese Protestwelle durch die brutale Räumung eines Camps von Umweltaktivisten, die sich auf dem Istanbuler Taksim-Platz gegen die Bebauung des kleinen Gezi-Parks zur Wehr gesetzt hatten. Gegen den Willen der Anwohner hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan verfügt, auf diesem letzten grünen Flecken im Herzen von Istanbul ein in den 50er Jahren abgerissenes osmanisches Kasernengebäude neu zu errichten, das als Einkaufszentrum und wohl auch als Moschee dienen sollte. Das von höchster Stelle angeordnete Bauprojekt steht symbolisch für eine Politik, die Neoliberalismus in osmanischem Gewand mit religiös-konservativen Moralvorstellungen verbindet.

Die Ende 2002 in einem Erdrutschsieg an die Regierung gewählte islamisch-konservative »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung« (AKP) war unter dem Versprechen angetreten, mit den noch aus der Zeit der Militärdiktatur der 80er Jahre stammenden bürokratischen und militaristischen Strukturen des Landes aufzuräumen und demokratische Reformen umzusetzen. Dieses Programm sicherte der AKP die Unterstützung der EU und der USA – versprach es doch, den neoliberalen Vorgaben der EU folgend, die Herstellung einer freien Marktwirtschaft und die Privatisierung der Reste des aus kemalistischen Zeiten stammenden starken Staatssektors.

Doch eine wirkliche Demokratisierung fand unter der AKP nicht statt, vielmehr wandelte sich die Türkei von einer laizistisch geprägten Militärdiktatur zu einem neoliberal-religiösen Polizeistaat. Im Namen der EU-Anpassung wurden der Polizei im Bereich der sogenannten Terrorismusbekämpfung zuvor beim Militär liegende Vollmachten übertragen und die berüchtigte Militärpolizei Jandarma dem Innenministerium unterstellt. Technisch wurde die Polizei zur Bürgerkriegstruppe mit Panzerwagen und schwerbewaffneten Sondereinheiten hochgerüstet.

Die Militärführung, die zwischen 1960 und 1997 vier gewählte Regierungen gestützt hatte, wurde durch Massenverhaftungen von Offizieren und Generälen, die in offensichtlich fingierten Anklagen der Vorbereitung von Putschen gegen die AKP beschuldigt wurden, politisch entmachtet. Zur Durchführung dieser Massenverhaftungen konnte sich die AKP auf einen Polizei- und Justizapparat stützen, der zuvor von den Kadern der pantürkisch-islamischen Gemeinde des im selbstgewählten US-Exil lebenden Imam Fethullah Gülen systematisch unterwandert worden war.

Massenverhaftungen richteten sich nicht nur gegen Militärs, laizistische Akademiker und regierungskritische Journalisten, Gewerkschafter und Sozialisten, sondern insbesondere gegen die kurdische Befreiungsbewegung. Seit deren Wahlerfolg bei den Kommunalwahlen 2009 wurden rund 9000 Politiker und Aktivisten, darunter Dutzende Bürgermeister, sechs Parlamentarier und Hunderte Stadträte inhaftiert. Über ihr Medienimperium, zu dem auch die auflagenstärkste Tageszeitung Zaman gehört, begleitete die Gülen-Gemeinde solche Verhaftungswellen mit Desinformationskampagnen.

Bis zur Einleitung der jüngsten Friedensgespräche mit PKK-Führer Abdullah Öcalan wurden in den kurdischen Landesteilen nahezu sämtliche Demonstrationen mit massiver Polizeigewalt konfrontiert. Dutzende Demonstranten – darunter viele Kinder und Jugendliche – wurden dabei von der Polizei mit Gasgranaten tödlich getroffen, durch Schüsse getötet oder von Räumpanzern überrollt.

In der Westtürkei erhielt lediglich die Gewerkschaftsbewegung schon in den letzten Jahren das »Privileg«, bei ihren Protesten gegen Privatisierungen und Entlassungen sowie die noch von der Putsch-Junta stammenden gewerkschaftsfeindlichen Gesetze regelmäßig mit Pfefferspray und Wasserwerfern auseinandergetrieben zu werden. In diesem Jahr wurde der 1. Mai zu einer Generalprobe des Kampfes um den Taksim-Platz, als die Polizei den ganzen Tag über Gewerkschafter, Sozialisten und Kemalisten unter Einsatz von Reizgas und Wasserwerfern daran hinderte, hier ihre Kundgebung zum »Tag der Arbeit« durchzuführen.

»Es scheint, daß manche Gas brauchen«, hatte der Abgeordnete der islamisch-konservativen Regierungspartei Sirin Ünal nach der ersten Räumung des Gezi-Parks am 31. Mai gegen die Parkbesetzer getwittert. 20 Tage später gab es nach Zählung des Menschrechtsvereins IHD vier Tote und 7681 verletzte sowie 2841 festgenommene Demonstranten – der Jahresvorrat von 150000 Tränengasgranaten war weitgehend aufgebraucht. Die Regierung orderte nun 100000 weitere Geschosse und weitere 60 Wasserwerfer. Im vergangenen Jahr war der jährliche Gasvorrat übrigens schon Ende März zur Neige gegangen. Damals hatte die Regierung die Newroz-Feiern verboten, und die Polizei hatte die kurdischen Städte in eine Gaswolke gehüllt. Diese Methoden kolonialer Aufstandsbekämpfung sind nun endgültig auch in der Westtürkei angekommen, wo sie den weiteren Umbau des Landes nach neoliberalen und religiösen Kriterien begleiten.

»Willkommen in der Türkischen Republik des Polizeistaates« lautete der Titel einer Kolumne der Tageszeitung Hürriyet Daily News am 19. Juni: »Die Türkei ist zu einem Land geworden, in dem die herrschende Partei, die die Hälfte der Wählerschaft des Landes repräsentiert, die staatliche Polizei (und wenn notwendig auch das Militär) mit äußerst brutaler Gewalt gegen die andere Hälfte der Wählerschaft einsetzt, die einen Massenaufstand gegen die zunehmend autoritären Neigungen der Regierung begonnen hat.«