junge Welt 15.07.2011 / Thema / Seite 10
Es gäbe zwei Alternativen,
hatte Abdullah Öcalan im Vorfeld der türkischen Parlamentswahlen vom 12. Juni erklärt.
Entweder leite die Regierung einen offiziellen Lösungsdialog mit der kurdischen
Seite ein; oder der Konflikt, der in den letzten Jahrzehnten bereits 40000
Menschenleben gekostet hat, eskaliere in einem auch auf die türkischen Städte
übergreifenden »revolutionären Volkskrieg«. Dies ist keine leere Drohung, denn
weiterhin sehen Millionen Kurden den seit seiner Verschleppung 1999 auf der
Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer gefangen
gehaltenen Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als ihren
politischen Repräsentanten.
Mit nahezu 50 Prozent der Stimmen konnte die seit Ende 2002 regierende
islamisch-konservative AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) von
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan das dritte Mal
in Folge bei einer Parlamentswahl deutliche Zugewinne verbuchen; doch mußte sie Stimmenverluste in den kurdischen Landesteilen
hinnehmen. Großer Gewinner war hier der aus der prokurdischen Partei für
Frieden und Demokratie (BDP) gemeinsam mit 16 weiteren kurdischen und
sozialistischen Parteien und Gruppierungen gebildete »Block für Arbeit,
Demokratie und Freiheit«.
Dem
linkskurdischen Bündnis gelang es trotz massiver Repression und
Wahlmanipulation zugunsten der AKP 36 – zur Umgehung der Zehnprozenthürde als
»Unabhängige« angetretene – Kandidaten ins Parlament zu entsenden; zuvor waren
es 20 Mandate gewesen. Neben bekannten Politikern der Freiheitsbewegung wie der
früheren Abgeordneten Leyla Zana oder den Sprechern des aus kurdischen
Zivilorganisationen gebildeten »Kongresses für eine demokratische Gesellschaft«
(DTK), Ahmet Türk und Aysel Tugluk, wurden für den
Block der aramäische Christ Erol Dora aus Mardin,
einzelne konservative kurdische Intellektuelle wie der islamische Autor Altan
Tan sowie erstmals seit den 60er Jahren wieder führende Vertreter der radikalen
türkischen Linken gewählt: In Mersin etwa der frühere Studentenführer und
Stadtguerillero Ertuqrul Kürkçü,
in Istanbul der marxistische Regisseur Srr Süreyya
Önder und der Vorsitzende der Partei der Arbeit (EMEP), Levent Tüzel.
Noch bei der vom Militär unter Putschdrohungen erzwungenen vorzeitigen
Parlamentswahl 2007 war die AKP auch in den kurdischen Gebieten zur stärksten
Partei geworden. Tatsächlich handelte es sich damals aber vielfach um
»geliehene Stimmen« angesichts des damaligen Machtkampfes zwischen Erdogan und
den Militärs. Doch kurz nach der Wahl hatten sich diese und die Partei des
Ministerpräsidenten wieder geeinigt. Während die Generäle nicht länger eine
Wahl des AKP-Kandidaten Abdullah Gül zum Staatspräsidenten blockierten, gab die
AKP-Mehrheit im Parlament grünes Licht für Militäroperationen gegen
PKK-Stellungen im Nordirak. Nach mehreren Luftangriffen begann die türkische
Armee Anfang 2008 eine grenzüberschreitende Bodenoffensive, die sie nach einer
Woche unter großen Verlusten abbrechen mußte. Dieser
nach einem Grenzfluß benannte »Zap-Widerstand«
der Guerilla gab der Befreiungsbewegung erneuten moralischen Auftrieb, der sich
insbesondere in einem weiteren Anwachsen der zivilen Protestbewegung
widerspiegelte. Die anfänglichen Hoffnungen vieler Kurden auf die AKP waren
bereits zur Kommunalwahl im März 2009 verflogen, als die prokurdische Partei
für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) zur stärksten Kraft in den kurdischen
Landesteilen wurde und fast 100 Bürgermeisterämter eroberte.
Auch die AKP konnte sich dieser Realität nicht verschließen. Einem Tabubruch
kam es gleich, als Staatspräsident Abdullah Gül im Mai 2009 zugab: »Das
Hauptproblem der Türkei ist die kurdische Frage.«
Erdogan verkündete gar eine »kurdische Öffnung«. Kommentatoren diskutierten in
der Presse über die Einbeziehung Öcalans in eine mögliche Lösung. Doch während
die wenigen konkreten Reformvorschläge der Regierung nicht über minimale
Zugeständnisse wie zweisprachige Ortsschilder hinausgingen, bezeichnete der
Generalstab bereits den von kurdischer Seite geforderten muttersprachlichen
Unterricht als »rote Linie«. Als dann im Dezember 2009 der
Verfassungsgerichtshof die DTP wegen angeblicher PKK-Nähe verbot, war die
»kurdische Öffnung« endgültig als propagandistische Luftnummer entlarvt.
Bereits zwei
Wochen nach der Kommunalwahl 2009 hat eine bis zum heutigen Tag andauernde
Verhaftungswelle eingesetzt, der bislang schätzungsweise 3000 zivile kurdische
Aktivisten zum Opfer gefallen sind. Den Verhafteten wird vorgeworfen, dem
PKK-nahen Dachverband der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK)
anzugehören. Keinem der Angeklagten wird der Besitz oder Gebrauch einer Waffe
vorgeworfen. Vielmehr reicht schon die Forderung nach einer »demokratischen
Republik mit freien Kommunen«, das Eintreten für Geschlechterquotierung oder
das Engagement gegen umweltzerstörerische Staudammprojekte für den Vorwurf der
Unterstützung einer »illegalen bewaffneten Organisation« aus, da auch Öcalan
und die PKK diese Ziele vertreten. Seit Oktober 2010 läuft in Diyarbakir ein Mammutprozeß gegen 151 kurdische Politiker, darunter ein
Dutzend Bürgermeister. Die Forderung der Angeklagten, sich in ihrer kurdischen
Muttersprache zu verteidigen, wurde vom Vorsitzenden Richter mit der Bemerkung
zurückgewiesen, die Angeklagten sprächen eine »unbekannte Sprache«.
Während die Regierung im September letzten Jahres erstmals bestätigte, daß Staatsvertreter im Dialog mit Abdullah Öcalan stehen, gingen
die Repression gegen die kurdische Zivilgesellschaft ebenso wie die
Militäroperationen gegen die Guerilla unvermindert weiter. Allein in den drei
Monaten vor der Wahl wurden rund 2500 BDP-Aktivisten festgenommen, die Polizei verschoß in diesem Zeitraum ihren Jahresvorrat an
Gasgranaten, mehrere Demonstranten starben an den Folgen von Polizeigewalt.
Dutzende Guerillakämpfer fielen trotz einseitig erklärten Waffenstillstands bei
Angriffen des Militärs, das auch chemische Waffen einsetzte. Zu ihren Beerdigungen
versammelten sich Zehntausende, darunter Abgeordnete und Bürgermeister der BDP.
Beim Buhlen um Stimmen aus dem türkisch-nationalistischen Lager erklärte
Erdogan, der zwei Jahre zuvor noch die Kurdenfrage zur Chefsache gemacht hatte,
diese nun für gelöst: »Es gibt kein kurdisches Problem, nur meine kurdischen
Brüder haben Probleme.« Die Regierung sage Ja zu individuellen Rechten und Nein
zu kollektiven Rechten, entlarvt der Block-Abgeordnete Altan Tan die Politik
der AKP. »Kurden dürfen unter sich Kurdisch sprechen und ihre Lieder auf
Kurdisch singen, aber sie sollen keine muttersprachliche Erziehung bekommen
oder sich erdreisten, demokratische Autonomie, eine Regionalregierung, ein
staatliches System oder Föderalismus zu fordern.«
Das
Wählervotum für den linkskurdischen Block, der etwa in Diyarbakir alle sechs
und in Van alle vier Mandate erobern konnte, entsprach einem Plebiszit über das
Projekt einer Demokratischen Autonomie. Dieser Lösungsvorschlag geht auf
Abdullah Öcalans an libertären Theoretikern wie Murray Bookchin
orientierte Strategie des »demokratischen Konföderalismus«
zurück, die seit 2004 die politische Linie der kurdischen Befreiungsbewegung
bestimmt. Demokratische Autonomie meint keine mit der kurdischen Autonomieregion
im Nordirak vergleichbare föderative Lösung, sondern vielmehr eine
tiefgreifende politisch-administrative Reform zur Aufteilung der bislang strikt
zentralstaatlich gelenkten Türkei in bis zu 25 autonome regionale
Verwaltungseinheiten.
Der Aufbau basisdemokratisch organisierter, selbstverwalteter Kommunen steht
dabei im Mittelpunkt. Schon nach der Kommunalwahl 2009 wurde in den von der DTP
gewonnenen Gemeinden mit der Bildung von Straßen- und Stadtviertelräten
begonnen. In Städten wie Diyarbakir, Batman, Van und Hakkari
wurde die kommunale Regierungsgewalt inzwischen von den offiziellen Stadträten
auf diese Räte übertragen. So bestehen etwa in Van 29 aus Volksversammlungen
hervorgegangene Wohngebietsräte, die sich den unmittelbaren Lebensfragen vor
Ort widmen, aber auch die Verwendung der Haushaltsmittel durch die
Stadtverwaltung bestimmen. »Die Rathäuser gehören dem Volk und nicht
irgendeiner Partei«, meint der Vizebürgermeister von Van, Selim Bozyigit. »Wir müssen unsere Planungen mit dem Volk gemeinsam
machen und die Mittel gerecht verteilen.« Gerade in
dieser von den Kurden als Serhet bezeichneten Region
zwischen Van-See, Berg Ararat und armenischer Grenze, in der außer Kurden auch
Turkvölker leben, rückt neben der Identitätspolitik die soziale Frage in den
Mittelpunkt der Politik der von der BDP gestellten Stadtverwaltungen.
Für die von der vorangegangenen AKP-Administration übernommenen
Kommunalarbeiter gründete die linke Stadtverwaltung in Van erst einmal eine
Gewerkschaft und erhöhte deren Gehalt deutlich. Vizebürgermeister Bozyiqit, der aufgrund seiner politischen Überzeugung viele
Jahre im Gefängnis verbracht hat und nun sieben Tage die Woche unermüdlich beim
Aufbau einer demokratischen Stadtverwaltung aktiv ist, bekommt selber rund 700
Euro Monatslohn.
In Manifesten des Blocks wird ein antikapitalistischer Geist beschworen: »Das
herrschende kapitalistische System auf der Welt beseitigt das Kollektive und läßt mittels individueller Freiheiten die Individualität
aufbäumen. Hierzu wird systematisch versucht, jede Art von Organisation in Form
von gesellschaftlicher Einheit, Solidarität und Hilfeleistung aufzulösen.« Aber abgesehen von der Forderung nach einer Landreform
sind in diesem Programm keine Eingriffe in das Privateigentum enthalten. Im
Gespräch schließen die Räteaktivisten weitergehende sozialistische Schritte für
die Zukunft keineswegs aus. »Aber wir sind durch Massenverhaftungen geschwächt
und können uns nicht gleichzeitig mit dem Staat, den Großgrundbesitzern und
Unternehmern anlegen«, führt ein BDP-Funktionär in der Stadt Sirnak aus. Es gelte erst einmal die »demokratische
Autonomie« zu stärken, ehe der nächste Schritt gegangen werden kann.
Abdullah Öcalan mahnte nach der Wahl an, den Wahlblock in eine Dachpartei aus
der BDP, Sozialisten, Ökologen und Feministinnen umzuwandeln. »Wir als
türkische Linke und Revolutionäre, die wir von der Revolution geträumt haben,
müssen eine Menge an Erfahrung von der kurdischen Freiheitsbewegung lernen. Nun
ist es an der Zeit, gemeinsam zu handeln«, begrüßte der ehemalige
Stadtguerillaaktivist Kürkçü Schritte zu einer
solchen Partei. Die Arbeiterklasse der Türkei sei »kurdisiert«,
verweist sein Istanbuler Kollege Srr Süreyya Önder
auf den Zusammenhang von Klassenfrage und ethnischer Identität. »Wo es die
Drecksarbeit zu machen gibt, sind die Kurden da. Die bereitstehende billigste
Arbeitskraft ist kurdisch, und dann gehst du hin und machst Klassenpolitik,
indem du diese Identität ignorierst oder übersiehst«, kritisiert der
marxistische Regisseur Gewerkschafter, die eine besondere ethnische
Unterdrückung der kurdischen Arbeiter ausblenden.
Die AKP vermochte es bislang, die religiöse Klaviatur zu spielen, um wie im
Osmanischen Reich den konservativeren Teil der kurdischen Gesellschaft im Namen
gemeinsamer islamischer Identität an den türkischen Staat zu binden. Eine im
Rahmen der »kurdischen Öffnung« vom Amt für religiöse Angelegenheiten DIANET veranlaßte kurdische Übersetzung des Koran
steht symptomatisch für eine solche »osmanische Lösung«. Die hinter der AKP
stehende wirtschaftsstarke Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen, aber auch die in den 90er Jahren noch im
Rahmen staatlicher Konterguerilla für Tausende Morde an PKK-Anhängern
verantwortliche »türkische Hizbollah« machen sich die
Armut in den kurdischen Landesteilen zunutze, um über Stiftungen, Stipendien
oder Suppenküchen eine reaktionäre islamische Massenbewegung als Gegengewicht
zur Befreiungsbewegung aufzubauen.
Während die laizistischen Linken mit ihrer undifferenzierten Zurückweisung von
Religion in den kurdischen Landesteilen kaum Fuß fassen konnten, hat die BDP
erfolgreich damit begonnen, fromme Muslime anzusprechen. Im Rahmen ihrer
»Kampagne zivilen Ungehorsams« ruft die BDP Gläubige dazu auf, anstatt zum Gebet
in die von staatlichen Imamen kontrollierten Moscheen zu »zivilen
Freitagsgebeten« auf öffentlichen Plätzen zu kommen. Unter den Blicken der mit
Wasserwerfern präsenten Polizei predigen die von der regierungsnahen Presse als
»PKK-Imame« geschmähten Geistlichen dort in kurdischer Sprache. »Wir sind die
Enkel von Sheik Said«, verkündete ein Imam bei einem
Freitagsgebet auf dem Dagkapi-Platz in Diyarbakir
Ende Juni unter Verweis auf den an dieser Stelle 1925 hingerichteten
sunnitisch-kurdischen Aufstandsführer. Dann warb der
Imam um die Einheit der Kurden ungeachtet ihres Glaubens: »Unseren alevitischen Brüdern rufen wir zu: Ihr seid die Nachfahren
von Seyid Riza« – dem 1937 hingerichteten alevitischen Führer der Dersim-Kurden.
Im Wahlkampf hatte Erdogan auf dem Dagkapi-Platz vor
Anhängern der »türkischen Hizbollah« eine regelrechte
Pogromrede gegen Aleviten und Eziden
gehalten. Daß der Ministerpräsident BDP-Mitglieder
als »falsche Muslime« diffamierte, kostete ihm auch unter seinen eigenen
Anhängern in Kurdistan viele Sympathien.
Die BDP
spielte die religiöse Karte erfolgreich, indem sie den bekannten islamischen
Autor und volksnahen Politiker Altan Tan als Kandidaten des Blocks in
Diyarbakir aufstellte. Gegenüber denjenigen, die angesichts der Kandidatur von
Tan und des Vorsitzenden einer konservativen Splitterpartei, Serafettin Elci, für den Block die progressive Ausrichtung der
kurdischen Bewegung in Frage stellen, entgegnete der BDP-Abgeordnete Bengi Yildiz aus Batman: »Wir dürfen nicht vergessen, daß unsere Bewegung sowohl einen sozialistischen Charakter
hat als daß sie auch die Bewegung eines
unterdrückten, kolonisierten Volkes ist. In einem kolonisierten Volk gibt es
konservative, sozialistische, nationalistische und liberale Kräfte.« Wenn einige wenige Kandidaten des Blockes eine andere
Richtung vertreten, ändere das nichts am linken Grundcharakter. Vielmehr
bekämen so »auch jene außerhalb der eigenen Kreise eine Chance, zu deuten, was
Sozialismus ist.«
Entscheidend bei der Einbindung religiöser Kreise ist, daß
die kurdische Bewegung keinerlei Zugeständnisse in der von ihr als zentral
betrachteten Frage der Frauenbefreiung macht. »Das Projekt der demokratischen
Autonomie, das auf den Paradigmen der Demokratie, Ökologie und
Geschlechterfreiheit basiert, ist im Grunde ein Frauenprojekt«, heißt es im
Manifest des Blocks. »Die Emanzipation der Frau ist die Emanzipation der
Gesellschaft.« In den BDP-Frauenkommissionen sind
kopftuchtragende Frauen gemeinsam mit ihren sommerlich gekleideten Genossinnen
aktiv gegen häusliche Gewalt und Zwangsehen. Polygamie führt zwingend zum Parteiausschluß. Die BDP tritt in ihren Gremien ebenso wie
in den Rätestrukturen für eine 40prozentige Geschlechterquotierung und
quotierte Doppelspitzen ein. Während im Parlament Frauen gerade einmal auf 15
Prozent kommen, sind 31 Prozent der Blockabgeordneten weiblich, und die BDP
stellt mehr Bürgermeisterinnen als alle anderen Parteien türkeiweit zusammen.
Für eine Region, in der Frauen vielerorts nicht ohne männliche Begleitung auf
die Straße gelassen werden und ihnen von der Familie eine Schulbildung
zugunsten einer frühen Verheiratung verweigert wird, ist dies von
beträchtlichem symbolischem Wert. »Am Anfang bestanden noch viele Vorurteile«, erinnert
sich die wiedergewählte Abgeordnete von Igdir, Pervin
Buldan. »Aber inzwischen hat sich das Verhältnis der
Bevölkerung zu den Politikerinnen sehr positiv gewandelt.«
Viele Männer sind inzwischen stolz, daß die
östlichste Provinz des Landes in Ankara von einer Frau repräsentiert wird. Was
noch fehlt, sind Arbeitsplätze für die soziale Emanzipation der Frauen. Ein von
der Stadtverwaltung in Van geschaffener Basar, auf dem ausschließlich Frauen
arbeiten, ist da nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Alle
Parlamentsparteien treten für eine Ablösung der noch von der Militärjunta 1982
vorgelegten autoritären Verfassung ein. Während der linkskurdische Block für
eine freiheitliche und egalitäre Verfassung plädiert, die Arbeiter- und
Frauenrechte ebenso wie die Rechte der Kurden festschreibt, strebt die AKP ein
Präsidialsystem nach US-Vorbild an, um ihre neoliberale Politik mit starker
Hand fortzuführen. Um im Alleingang eine per Referendum zu verabschiedende
Verfassung auszuarbeiten, braucht die AKP 330 Parlamentssitze – vier mehr, als
sie bei der Wahl erhielt. In einem kalten Putsch soll diese Mehrheit nun
offenbar realisiert werden. So verkündete der Wahlrat YSK kurz nach der
Abstimmung, daß dem von 78000 Menschen in Diyarbakir
gewählten Abgeordneten Hatip Dicle
das Mandat entzogen und an eine AKP-Kandidatin vergeben würde. Der seit Ende
2009 unter PKK-Vorwurf in Untersuchungshaft sitzende Dicle
war bereits in den 1990er Jahren gemeinsam mit Leyla Zana aus dem Parlament
heraus verhaftet und für zehn Jahre inhaftiert worden.
Als Grund des Mandatsentzugs nannte der YSK eine wenige Tage vor der Wahl wegen
einer angeblichen Propagandarede für die Arbeiterpartei Kurdistans erfolgten Verurteilung Dicles zu
einer Haftstrafe. Fünf weitere unter PKK-Vorwurf in Untersuchungshaft sitzende
Block-Abgeordnete wurden nach ihrer Wahl eben sowenig aus dem Gefängnis
entlassen wie drei aufgrund ihrer möglichen Verwicklung in Putschpläne
inhaftierte Abgeordnete der anderen Oppositionsparteien. Die zur Fraktionssitzung
in Diyarbakir versammelten Blockabgeordneten kündigten an, die
Nationalversammlung in Ankara so lange zu boykottieren, bis Dicle
sein Mandat zurückerhält. Im nächsten Schritt soll ein kurdisches
Regionalparlament in Diyarbakir gebildet werden. Vor Zehntausenden Zuhörern
verkündete der Abgeordnete Ahmet Türk am 4. Juli im Sportstadion der kurdischen
Millionenstadt: »Wenn alle Türen zum Frieden verschlossen sind, werden sich die
Kurden ihre eigene Alternative schaffen.«
Die Drohung
mit dem Volkskrieg hat Abdullah Öcalan nach der Wahl zurückgenommen. Es sei
wichtig, daß sich die Abgeordneten des Blocks an der
Verfassungsdebatte beteiligen, erklärte er und sprach sich für eine
Verlängerung des PKK-Waffenstillstands aus. Die Bevölkerung in den kurdischen
Landesteilen sehnt sich zwar nach Frieden – doch nicht um jeden Preis:
»Natürlich stehen wir hinter Öcalans Entscheidungen«, meint ein Uhrmacher auf
dem Basar von Diyarbakir. »Aber wie lange können diese einseitigen
Waffenstillstände fortgesetzt werden, wenn der Staat nur mit weiteren Massakern
antwortet?« Der alte Mann, der an der Wand seiner
winzigen Werkstatt ein Bild des sozialistischen Regisseurs Yilmaz Güney hängen
hat, ist sich sicher: Die demokratische Autonomie wird für Kurdistan erkämpft
werden – mit oder ohne Zustimmung Ankaras. Das sehen auch die vermummten
Jugendlichen auf einer Demonstration so. Auf ihrem Plakat heißt es: »Wir sind
bereit! Und ihr?«