Trotz Friedensverhandlungen kein
Rückgang der Repression gegen Oppositionelle
Neue Phantome
Nick Brauns, freier Journalist
Phantome mit Bezeichnungen wie Ergenekon und Balyoz, KCK und Revolutionäres Hauptquartier bestimmten in
den letzten Jahren die Agenda der türkischen Justizbehörden. Unter dem Vorwurf,
einem als Ergenekon bezeichneten nationalistischen Putschistennetzwerk anzugehören, wurden hunderte
hochrangige Offiziere bis hin zu früheren Generalstabschefs, kemalistische und
laizistische Politiker, Akademiker und Journalisten verhaftet. Die vom
tatsächlichen »tiefen Staat« in Kurdistan begangenen Kriegsverbrechen kamen
während des Ergenekon-Verfahrens allerdings nicht zur
Sprache, da sie schließlich mit Duldung auch der neuen islamischen Eliten der
AKP in Roboskî und anderorts fortgesetzt wurden.
Vielmehr diente die Operation Ergenekon der
Entmachtung der alten laizistischen Eliten im Staatsapparat und der
Unterwerfung der Armee unter die religiösen Kader der AKP und Gülen-Bewegung.
Die sogenannten KCK-Operationen wiederum richteten sich nicht gegen die
tatsächlich existierende, aus der Arbeiterpartei Kurdistans PKK hervorgegangene
»Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans« (KCK), sondern gegen legal in der
Türkei aktive kurdische Politiker und Aktivisten zivilgesellschaftlicher
Organisationen. Unter den bis zu 9 000 seit den Kommunalwahlen im
Frühjahr 2009 verhafteten KCK-Beschuldigten befinden sich mehrere Dutzend
Bürgermeister, sechs Parlamentsabgeordnete sowie unzählige Parteivorstände,
aber auch Frauen- und Menschenrechtsaktivisten, Gewerkschafter sowie zahlreiche
Journalisten.
Nach gerade einmal zwei Anschlägen einer sich »Revolutionäres Hauptquartier« (Devrimci Karargah) nennenden
marxistisch-leninistischen Guerillaorganisation auf eine Kaserne und ein
Gebäude der Regierungspartei AKP wurden ab dem Jahr 2009 dutzende Funktionäre
legaler sozialistischer Parteien und Redakteure linker Zeitschriften unter dem
Vorwurf verhaftet, dieser in Camps der PKK militärisch ausgebildeten
Organisation anzugehören. Betroffen von den Devrimci-Karargah-Verhaftungen waren insbesondere solche linken
Aktivisten, die eine Verbindung des kurdischen Freiheitskampfes mit der
revolutionären Bewegung in der Westtürkei anstrebten.
Das Ergenekon-Verfahren steht heute kurz vor dem
Abschluss, einige Dutzend Offiziere wurden bereits im Jahr 2012 im Balyoz-Verfahren wegen angeblicher Putschpläne gegen die
AKP aufgrund offensichtlich manipulierter Beweise zu langjährigen Haftstrafen
verurteilt. Zu neuen Ergenekon-Verhaftungswellen ist
es seit längerem nicht mehr gekommen. Offensichtlich ist Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdoğan
angesichts der möglicherweise auf ein direktes türkisches Eingreifen
zulaufenden Entwicklungen im Nachbarland Syrien zu der Erkenntnis gelangt, dass
weitere Verhaftungen hochrangiger Militärs die Moral der Truppe, von der
bereits jetzt jeder vierte General hinter Gittern sitzt, nachhaltig schädigen
würde. Im Devrimci-Karargah-Verfahren
sind ebenfalls keine neuen Verhaftungen bekannt. Mit Aufnahme der
Friedensverhandlungen zwischen dem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan und
türkischen Geheimdienstvertretern sind die KCK-Operationen fast gänzlich
eingestellt worden, einige Dutzend Angeklagte kamen sogar während der laufenden
Prozesse aus der Haft frei. Die Masse der seit Jahren in Untersuchungshaft
sitzenden kurdischen Politiker verbleibt freilich in Geiselhaft des Staates.
Ein Rückgang staatlicher Repression gegen Opponenten der autoritär-neoliberalen
und religiös geprägten AKP-Herrschaft ist allerdings nicht zu erkennen. Wir
haben es vielmehr mit einer Verlagerung der Angriffe und einer Neudefinition
der Feindbilder des Staates vor dem Hintergrund des beginnenden kurdischen
Friedensprozesses, des Krieges in Syrien und schließlich der Ende Mai
losgebrochenen Taksim-Proteste zu tun. Neue Phantome
sind dabei, Ergenekon, KCK und Devrimci
Karargah abzulösen. Diese neuen Phantome tragen Namen
wie Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) und Türkische
Volksbefreiungspartei-Front (Die Eiligen) (THKP-C (Acilciler)).
Natürlich ist die marxistisch-leninistische DHKP-C
kein Phantom, sondern eine seit langem existierende revolutionäre Organisation
mit zahlreichen Anhängern insbesondere in den Gecekondus
westtürkischer Großstädte. Am 1. Februar dieses Jahres verübte der
DHKP-C-Aktivist Ecevit Şanlı einen
Selbstmordanschlag auf die US-Botschaft in Ankara, bei dem ein Wachmann getötet
und eine Journalistin verletzt wurde. Mit diesem Anschlag protestierte die
DHKP-C nach eigenen Angaben gegen die imperialistische Kriegspolitik der USA im
Nahen Osten und die Vasallenrolle der AKP. Kurz vor
dem kurdischen Newroz-Fest, auf dem der
PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan seinen Friedensappell verkündete, verübte die
DHKP-C Anschläge auf das Justizministerium und auf einen Sitz der AKP in
Ankara. Damit wollte die Organisation deutlich machen, dass es keinen Frieden
mit dem Staat und der Regierung geben könne. Doch schon vor diesen Anschlägen
holte die Polizei am 18. Januar zu einem massiven Schlag gegen linke
Oppositionelle in der Türkei aus. Bei vorgeblich gegen die DHKP-C gerichteten
Razzien in Istanbul, Izmir, Ankara und vier weiteren Städten wurden 85 Personen
festgenommen. Schwerbewaffnete Antiterroreinheiten stürmten Anwaltskanzleien,
ein Kulturzentrum, die Redaktion der sozialistischen Wochenzeitung Yürürüs (Marsch), den Gefangenenhilfsverein Tayad sowie Privatwohnungen von Anwälten. Unter den
Festgenommenen waren 15 linke Rechtsanwälte, von denen neun anschließend in
Untersuchungshaft genommen wurden. Sie würden zum Ziel der Operationen, »weil
wir die Anwälte der Revolutionäre, der Armen, der Familien von durch
Polizeikugeln getöteten kurdischen Kinder, kurz gesagt die Anwälte der
Unterdrückten sind«, erklärte der Präsident der von der Polizei gestürmten
»Zeitgenössischen Juristenvereinigung« (CHD), Selçuk Kozağaçlı. Die festgenommenen Anwälte hatten die
Verteidigung von 50 ihrerseits im Rahmen der KCK-Operationen verhafteten und
seit 2011 teilweise inhaftierten Anwälten des gefangenen PKK-Vorsitzenden
Öcalan übernommen. »Die Operation zielt darauf, Tausenden Menschen eine
juristische Verteidigung zu nehmen«, kommentierte der Vorstand der
prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) die Polizeiangriffe auf
die Anwälte.
Vorübergehend festgenommen wurden auch Musiker der linken Band Grup Yorum. Deren Aufnahmestudio
wurde verwüstet, Musikinstrumente zerstört und Studioaufnahmen eines kurz vor
der Veröffentlichung stehenden Albums beschlagnahmt. Der Wirkungsgrad dieser
seit Jahrzehnten bekanntesten linksradikalen Musikgruppe der Türkei, die von
Justizbehörden immer wieder mit der DHKP-C in Verbindung gebracht wird, zeigte
sich zuletzt im April dieses Jahres bei einem Antikriegskonzert von mehreren
Hunderttausend Menschen in Istanbul.
Auf diese erste DHKP-C-Operation im Januar folgten weitere vorgeblich gegen
diese Organisation gerichtete Razzien und Festnahmewellen.
So stürmte die Polizei am 18. Februar Wohnungen, Vereinsräume und
Gewerkschaftshäuser in 28 Städten. Betroffen waren vor allem die laizistischen
Hochburgen im Westen des Landes und entlang der Ägäisküste.
167 Haftbefehle richteten sich meist gegen Kommunalangestellte und Mitglieder
des linksgerichteten Gewerkschaftsdachverbandes des Öffentlichen Dienstes
(KESK). Ende März stürmten Antiterroreinheiten dann die Zentralen der
Hafenarbeitergewerkschaft Liman-Iş und der
Dienstleistungsgewerkschaft Genel-Iş in Ankara
und nahmen rund 20 Gewerkschafter fest. In den Jahren davor waren solche
Angriffe auf Gewerkschaften noch im Rahmen der KCK-Operationen erfolgt, nun
dient das neue Phantom DHKP-C als Vorlage.
Ethnisierung des »Terrorismus«
Am 11. Mai 2013 explodierten im Zentrum der Stadt Reyhanlı
nahe der syrischen Grenze in der Provinz Hatay zwei
Autobomben. Bei den Anschlägen wurde nach offiziellen Angaben mindestens 52
Menschen getötet. Dokumente des Jandarma-Geheimdienstes,
die die linksradikale Cyberaktivistengruppe Red Hack
später auf ihrer Website veröffentlichte, legen nahe, dass die von der AKP im
Kampf gegen die syrische Regierung unterstützte djihadistische
al-Nusra-Front die Autobomben gezündet hatte. So
sollte die Türkei zu einem direkten militärischen Eingreifen in den syrischen
Bürgerkrieg bewegt werden. Doch schon kurz nach den Anschlägen beschuldigten
türkische Regierungspolitiker die syrische Regierung von Bashar
al-Assad, für die Anschläge verantwortlich zu sein. In den folgenden Tagen
wurde die Verhaftung von über einem Dutzend angeblichen Mitgliedern
linksradikaler Gruppierungen aus der Türkei gemeldet, die die Anschläge im
Auftrag des syrischen Geheimdienstes begangen haben sollen. Die Verhafteten
sollen der DHKP-C und einer Gruppe namens Türkische Volksbefreiungspartei-Front
(Die Eiligen) (THKP-C (Acilciler)) angehören. Die
DHKP-C wies umgehend jegliche Verantwortung für das »faschistische Massaker«
zurück. Bei der THKP-C (Acilciler) wiederum handelt
es sich um eine Splittergruppe, die seit Anfang der 80er Jahre gar nicht mehr
in der Türkei aktiv war. Ihr Anführer Mirac Ural war
nach dem Putsch vom 12. September 1980 nach Syrien geflohen, hatte die syrische
Staatsbürgerschaft angenommen und befehligt dort jetzt eine regimetreue Miliz.
Deren Aufgabe besteht nach Urals Angaben darin, das Einsickern ausländischer Djihadisten von der Türkei nach Syrien zu verhindern.
Türkische Sicherheitskräfte beschuldigen dagegen den selber der alawitischen
Religionsgemeinschaft entstammenden Ural, Proteste gegen die AKP-Kriegspolitik
gegenüber Syrien unter Alawiten in Hatay organisiert
zu haben. Die Provinz Hatay war 1939 von der Türkei
annektiert worden. Rund ein Viertel ihrer 1,5 Millionen Einwohner sind arabischsprachige Alawiten, einer Religionsgemeinschaft,
der auch der syrische Präsident Bashar al-Assad und
Teile der syrischen Staatsführung angehören. Mit dem nach den Anschlägen von Reyhanlı präsentierten Szenario einer
linksradikal-syrisch-alawitisch-alevitischen
Verschwörung zielt die AKP-Regierung offenbar darauf, mit einem Schlag Bashar al-Assad, linke Kriegsgegner und religiöse
Minderheiten im eigenen Land ins Fadenkreuz zu nehmen.
Ethnisierung
Schon nach dem Anschlag auf die US-Botschaft in Ankara deutete sich in Teilen
der türkischen Presse eine Tendenz zur Ethnisierung
des »Terrorismus« an. Gemeint ist die Negierung einer linken politischen
Motivation zugunsten der angeblichen ethnischen oder religiösen Herkunft der
Aktivisten. Nach den Anschlägen von Reyhanlı
verstärkte sich diese Darstellungsweise, in der ein angeblich alevitischer Charakter der DHKP-C betont wird. Im nächsten
Schritt wird eine Nähe zwischen den Aleviten in der
Türkei und den syrischen Alawiten suggeriert. Mit dem Phantom der Acilciler wird dann noch eine scheinbar alawitische
»Terrororganisation« ins Spiel gebracht und zur Verbündeten der »alevitischen DHKP-C« erklärt. »Die Organisation ist dafür
bekannt, ihre Aktivisten unter den Aleviten zu
rekrutieren«, heißt es in einem Artikel der regierungsnahen, zur Gülen-Bewegung
gehörenden Tageszeitung Today´s Zaman über die
DHKP-C: »Der Bürgerkrieg in Syrien brachte dieser Organisation internationalen
Schutz und Unterstützung. Aber noch bedeutsamer ist das Zusammentreffen der
Wiederauferstehung der DHKP-C mit der Entwaffnung der Arbeiterpartei Kurdistans
(PKK). Das bedeutet, dass die Türkei mit einer neuen Gewaltwelle resultierend
aus ihrer alevitischen Frage konfrontiert wird,
während sie gerade ihre kurdische Frage in den Griff zu kriegen versucht.« In eine ähnliche Kerbe schlägt der Kolumnist der
oppositionellen Tageszeitung Hürriyet Daily News, Mustafa Akyol, in einem für
die Website Al-Monitor verfassten Artikel: »Es gibt da noch eine Tatsache über
die DHKP-C und allgemein über die türkischen marxistischen Gruppen, die zu
benennen vielleicht politisch nicht korrekt ist, die aber dennoch einen Fakt
darstellt. Die Mehrheit ihrer Mitglieder kommen von
der Minderheit der Aleviten in der Türkei, die eine
unorthodoxe und weitgehend säkulare Richtung des Islam bildet. Es ist zudem
bekannt, dass zwar nicht alle, aber die meisten Aleviten
in der Türkei dazu tendieren, mit dem Regime von Bashar
al-Assad in Syrien zu sympathisieren, das sich wiederum auf die dortige
Minderheit der Alawiten stützt (Die Aleviten der
Türkei und Syriens Alawiten sind nicht identisch, aber ähnlich).« Und ein nach
dem Anschlag auf die US-Botschaft in der Hürriyet
Daily News erschienener Artikel hält die in Dêrsim (Tunceli) aktiven maoistischen Guerillaorganisationen für
»ethnisch-sektiererische Organisationen«. (Waiting for
new waves of terror, HDN 7.2.2013) In
diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass insbesondere Zeitungen der
Gülen-Bewegung wie die Zaman in der Vergangenheit immer wieder eine angebliche
Dominanz von Aleviten in der PKK-Führung behauptet
hatten (z. B. The Alevi reality
within the PKK, Today`s Zaman, 26.10.2010). Um die Gefährlichkeit dieser Ethnisierung zu verdeutlichen, sei an die Hetze der
zaristischen und weißgardistischen Presse in den
Jahren vor und nach der russischen Oktoberrevolution erinnert, die regelmäßig
die jüdische Herkunft einer Reihe von führenden Bolschewiki und eine angeblich
jüdische Dominanz innerhalb der russischen Arbeiterbewegung behaupteten und
damit den ideologischen Zündstoff für Pogrome der faschistischen
Schwarzhunderter legten. Analog dazu ist die Betonung des angeblich alevitischen Charakters der DHKP-C oder anderer
säkular-marxistischer Gruppierungen durch Medien des sunnitischen politischen
Blocks aus AKP und Gülen-Bewegung letztlich die Vorbereitung für offene
Pogromhetze gegen Aleviten.
Aufstandsbekämpfung von Amed nach Ankara
Die während der vergangenen Jahre in Kurdistan durchgeführten Aufstandsbekämpfungsmethoden gegen zivilgesellschaftliche
Proteste erfahren heute ihre Übertragung auf die Westtürkei. Bereits in den
letzten Jahren wurden regelmäßig gewerkschaftliche Proteste angegriffen, so
etwa die streikenden Arbeiter des staatlichen Tabakmonopols Tekel
im Winter 2009/10 oder im Sommer 2012 Gewerkschaftsproteste gegen die
neoliberal und religiös intendierte 4+4+4-Bildungsreform der AKP. Letztes Jahr
im November suchte die AKP erstmals auch die gewaltsame Konfrontation mit der
kemalistischen Opposition auf der Straße, als sie in Ankara einen Aufmarsch am
»Tag der Republik« verbot und Zehntausende mit türkischen Fahnen versammelten
Anhänger von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk mit Reizgas und Wasserwerfern
attackierte.
Zunehmend richtet sich die Polizeigewalt gegen Kritiker der neoliberalen
Stadtentwicklung. So griff die Polizei im April 2013 zahlreiche Regisseure,
Filmkritiker und Künstler an, die während eines Istanbuler Filmfestivals gegen
den Abriss des aus den 1920er Jahren stammenden Emek-Kinos
in der Nähe des Taksim-Platzes protestierten. Am 1.
Mai suchte die AKP dann die offene Auseinandersetzung mit der Arbeiterbewegung,
als sie die Maikundgebung auf dem Taksim-Platz
verbot. Den ganzen Tag der Arbeit über lieferte sich die Polizei Straßenschlachten
mit Gewerkschaftern, Sozialisten und Mitgliedern der kemalistischen CHP. Dies
war quasi die Generalprobe für die massive Protestbewegung, die Ende des Monats
nach der brutalen Räumung eines Protestcamps gegen die Bebauung des Gezi-Parks am Taksim mit einem
Einkaufszentrum entfacht wurde. Bilder, wie sie bisher nur aus kurdischen
Städten bekannt waren, gab es nun auch aus Ankara, Istanbul, Antakya und Izmir.
Die Polizei ging mit Wasserwerfern und Gasgranaten, Knüppeln und sogar
Dönermessern auf Demonstranten los. Mindestens drei Demonstranten wurden
innerhalb der ersten landesweiten Protestwoche getötet, die Zahl der Verletzten
lag nach Angaben der Ärztekammer bei rund 5 000. Die Kemalisten der CHP,
die jahrzehntelang zum Kolonialkrieg in Kurdistan geschwiegen oder diesen mit
rassistischen Äußerungen gar noch angefacht hatten, sahen sich nun selber in
Ankara von der Polizei so behandelt wie sonst nur die kurdischen Demonstranten
in Amed.
Soziale Netzwerke als Teufelszeug
Schon nach den Anschlägen von Reyhanlı hatte die
Regierung eine Mediensperre verhängt, um so Hinweise auf eine Täterschaft der
al-Nusra-Front zugunsten der staatlich gewünschten
Version eines Anschlags des syrischen Geheimdienstes zu verbreiten. Als dann
nach der Räumung des Camps im Gezi-Park die
landesweite Protestwelle losbrach, musste keine solche Mediensperre verhängt
werden. Die meisten Sender schwiegen in vorauseilendem Gehorsam über die
Proteste. Während CNN in den USA live über die Proteste gegen Erdoğan berichtete, sendete der türkische Ableger CNN
Türk eine Reportage über Pinguine – dies veranlasste Demonstranten mit Pinguinmasken gegen die selbstauferlegte Medienzensur zu
protestieren. Doch wie in den arabischen Aufständen in Tunesien und Ägypten
verbreiteten sich die Nachrichten in rasender Geschwindigkeit über soziale
Netzwerke wie Twitter-Accounts, z. B. #occupygezi, und Facebook, die von
der Regierung nicht kontrolliert oder eingeschüchtert werden konnten. Im
Unterschied zum »arabischen Frühling«, wo viele Tweeds aus Europa kamen,
stammten in der Türkei 90 Prozent der getwitterten
Meldungen aus dem eigenen Land, 50 Prozent wiederum aus Istanbul. Folgerichtig
erklärte Erdoğan kurz nach Beginn der
landesweiten Proteste die sozialen Netzwerke zur »schlimmsten Bedrohung der
Gesellschaft«. »Es gibt jetzt eine neue Bedrohung namens Twitter«,
behauptete der Ministerpräsident im Fernsehen. »Die besten Beispiele für Lügen
können dort gefunden werden.« Seine beiden eigenen Twitter-Accounts mit 2,7 Millionen türkischsprachigen und
314 000 arabischsprachigen Followers
dürfte Erdoğan damit nicht gemeint haben. Kurz
darauf nahm die Polizei in Izmir und Adana Dutzende Twitterer
und Facebook-Benutzer unter der Beschuldigung fest,
irreführende und beleidigende Nachrichten verschickt und zum Aufruhr
angestachelt zu haben. Nach Angaben eines örtlichen Politikers der
kemalistischen Oppositionspartei CHP hatten die Festgenommenen Nachrichten wie
»Widerstand – Gebt den Platz nicht auf« und »Polizei kommt« verschickt. In
einem Land, in dem zahlreiche Websites, die sich mit der kurdischen Frage oder
dem Armeniergenozid befassen, gesperrt sind und auch
die Videoplattform youtube nach beleidigenden
Beiträgen über Atatürk landesweit blockiert wurde, ist die Aussage von
Staatspräsident Abdullah Gül, es gäbe kein Recht auf Hexenjagden über Twitter, als offene Drohung an die Nutzer dieser neuen
Kommunikationsnetzwerke zu verstehen.
Diejenigen, die im Rahmen der Gezi-Park-Proteste
Gewalt angewendet und Schäden angerichtet hätten, seien dieselben, die auch für
den Anschlag auf die US-Botschaft in Ankara am 1. Februar verantwortlich waren.
Dies erklärte Erdoğan am 5. Juni in Tunis kurz
vor seiner Rückkehr in die Türkei. Wen er damit konkret meinte – die DHKP-C,
das syrische Regime oder Aleviten und Alawiten in der
Türkei – ließ der Ministerpräsident offen, doch die Botschaft war klar.