VORWÄRTS/1266: 100 Jahre Oktoberrevolution - Neues Kapitel der Weltgeschichte

vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 05/06 vom 17. Februar 2017

Einführung der vorwärts-Redaktion
Debatte: Oktoberrevolution


Die sozialistische Revolution im Jahr 1917 angeführt von Lenin hat die Welt verändert. Darüber besteht kein Zweifel. Doch welche Bedeutung hat sie 100 Jahre später in einer im Vergleich zu damals völlig anderen Welt? Welche Lehren und Schlüsse können heute für die Zukunft gezogen werden? Diesen und vielen anderen Fragen wollen wir im vorwärts über das ganze Jahr 2017 auf die Spur gehen. In dieser Reihe werden Analysen und Diskussionsbeiträge, aber auch Interviews und persönliche Erinnerungen erscheinen. Wir freuen uns auf eine breite und sicher auch kontroverse Debatte!



Neues Kapitel der Weltgeschichte

von Nick Brauns

Das russische Reich wurde im Herbst 1917 immer stärker von einer gesamtnationalen Krise erfasst. Die Wirtschaft verfiel zusehends, der Zusammenbruch der Staatsfinanzen drohte, Hungerunruhen erschütterten das Land. Hunderttausende SoldatInnen begannen, die Friedensfrage auf eigene Faust zu lösen, indem sie von der Front desertierten. BäuerInnen brannten die Gutshöfe nieder und besetzten die Ländereien. Eine Streikwelle durchzog das Land, ArbeiterInnen sperrten die Betriebsleiter ein. In den nichtrussischen Landesteilen des Zarenreiches - so in der Ukraine, in Belarus, Polen, Bessarabien, im Baltikum und in Finnland - wurde die Forderung nach Unabhängigkeit lauter.

Die Provisorische Regierung unter dem Sozialrevolutionär Alexander Kerenski konnte keine der Forderungen der Volksmassen nach Brot, Land und Frieden einlösen. Statt dessen befahl Kerenski, das Kriegsrecht gegen die aufständischen BäuerInnen anzuwenden. Gegen LandbesetzerInnen liess er ebenso eine Strafexpedition marschieren wie gegen den Sowjet von Taschkent. Um der wachsenden ArbeiterInnenbewegung entgegenzutreten, schlossen viele UnternehmerInnen ihre Betriebe und warfen Zehntausende ArbeiterInnen auf die Strasse.


Revolutionäre Situation

Das noch von den sozialdemokratischen Menschewiki und den bäuerlich-sozialistischen SozialrevolutionärInnen beherrschte Zentralexekutivkomitee der Sowjets versuchte, die wachsende Unzufriedenheit durch die Einberufung einer »Gesamtrussischen Demokratischen Beratung« für den 14. September aufzufangen. Auf ihr standen die mittlerweile meist auf bolschewistische Positionen übergegangenen Räte als Minderheit kommunalen Selbstverwaltungsorganen und Genossenschaften gegenüber. Letztere entsprachen in ihrer Zusammensetzung längst nicht mehr der gegenwärtigen Radikalisierung, sicherten aber den gemässigten Sozialisten eine solide Mehrheit, mit der sie die Bildung eines »Vorparlaments« beschlossen. Das Vorparlament unterstützte die Neubildung der Provisorischen Regierung mit Kerenski an der Spitze unter Einbeziehung der bürgerlichen Kadettenpartei, die zuvor noch offen mit dem gescheiterten Putsch von General Lawr Kornilow und der Errichtung einer Militärdiktatur sympathisiert hatte. Natürlich konnte auch diese bürgerlich-sozialdemokratische Koalitionsregierung die Krise des Landes nicht lösen. Es bildete sich eine klassisch revolutionäre Situation heraus, in der die Herrschenden nicht mehr weitermachen konnten wie bisher, die Beherrschten aber nicht mehr gewillt waren, sich der alten Herrschaft zu beugen.


Militärdiktatur droht

Lenin hatte dies in seinem finnischen Exil, wohin er aufgrund eines Haftbefehls der Kerenski-Regierung nach den Juli-Unruhen fliehen musste, besser erkannt als viele führende Bolschewiki in Russland. »Nachdem die Bolschewiki in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten beider Hauptstädte die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die Staatsmacht in ihre Hände nehmen«, drängte er in einem Brief an das ZK »Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen«, geschrieben 25. bis 27. September, zum Aufstand. Denn nur die Bolschewiki besassen ein dem Volk verständliches Programm, womit das Land aus der Krise geführt werden konnte. Die wichtigsten Massnahmen dieses Übergangsprogramms, dass an den unmittelbaren Bedürfnissen der Massen anknüpfte, in seiner Konsequenz aber zur Beseitigung der kapitalistischen Schranken führte, hatte Lenin zuvor in dem Artikel »Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll« zusammengefasst: »1. Vereinigung aller Banken zu einer einzigen Bank und staatliche Kontrolle über ihre Operationen oder Nationalisierung der Banken. 2. Nationalisierung der Syndikate, d. h. der grössten, der monopolistischen Verbände der Kapitalisten (Zucker-, Erdöl-, Kohlen-, Hüttensyndikat usw.). 3. Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses. 4. Zwangssyndizierung (d.h. Zwangsvereinigung in Verbänden) der Industriellen, Kaufleute und Unternehmer überhaupt. 5. Zwangsvereinigung der Bevölkerung in Konsumgenossenschaften oder Förderung einer solchen Vereinigung und Kontrolle über sie«. Die konsequente Realisierung dieser Massnahmen bedeutete jenen entschlossenen Schritt zum Sozialismus, vor dem die sozialdemokratischen Parteien zurückschreckten. Die Alternative aber war der Zusammenbruch des Landes und die Errichtung einer Militärdiktatur im Interesse der KapitalistInnen, GrossgrundbesitzerInnen und der mit Russland verbündeten imperialistischen Westmächte. Die einzige Chance zur Rettung der Revolution bestand so in der Übernahme der Macht durch die in den Räten führenden Bolschewiki. Einen Mittelweg gab es nicht. Doch das Zentralkomitee (ZK) der Bolschewiki zögerte und beschloss erschrocken, Lenins Brief mit der Aufstandslosung zu verbrennen. Wie schon in den Apriltagen fand sich Lenin in Opposition zum Zentralkomitee, dem er Passivität und Versöhnlertum vorwarf. In seiner Verzweiflung hatte er sogar seinen Austritt aus dem ZK beantragt, um sich die Freiheit der Agitation in den unteren Parteiorganisationen und auf dem Parteitag vorzubehalten.


Bewaffneter Aufstand unumgänglich

Gegen die ausdrückliche Weisung seiner GenossInnen kehrte Lenin am 20. Oktober 1917 getarnt als Priester ohne Bart, aber mit Perücke in die russische Hauptstadt zurück. Dort konnte er am 23. Oktober seine Aufstandspläne endlich direkt vor dem Zentralkomitee vortragen. Es sei eine gewisse Gleichgültigkeit für die Frage des Aufstandes zu beobachten, kritisierte er. Die internationale Lage - ein Aufstand in der deutschen Flotte als Ausdruck des Heranwachsens der sozialistischen Revolution in ganz Europa; die Gefahr eines Friedensschlusses zwischen den kämpfenden imperialistischen Lagern mit dem Ziel, die russische Revolution zu erdrosseln; Kerenskis Absicht, das revolutionäre Petrograd den Deutschen auszuliefern; die Vorbereitung eines weiteren gegenrevolutionären Putsches; landesweite BäuerInnenaufstände und die Eroberung der Mehrheit in den Sowjets durch die Bolschewiki - all dies setzte den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung. Nach einer zehnstündigen erregten Debatte stimmten im Morgengrauen des 24. Oktober zehn ZK-Mitglieder für die von Lenin mit einem Bleistiftstummel auf einer karierten Schulheftseite hastig niedergeschriebene Resolution, in der es heisst: »Das Zentralkomitee stellt somit fest, dass der bewaffnete Aufstand unumgänglich und völlig herangereift ist«. Ohne einen genauen Termin festzulegen, einigten sich die ZK-Mitglieder darauf, den Aufstand unmittelbar vor dem kommenden allrussischen Sowjetkongress durchzuführen und anschliessend von diesem legitimieren zu lassen.


Die »Streikbrecker«

Gegen die Aufstandslosung votierten Grigori J. Sinowjew und Lew B. Kamenew. Eine solche Aktion sei verfrüht. Vielmehr gehe es darum, im Rahmen einer Doppelherrschaft aus konstituierender Versammlung, in der die Bolschewiki eine starke Oppositionskraft bilden würden, und Sowjets, in denen die Bolschewiki in der Mehrheit waren, die Macht zu erobern. Unter offener Missachtung der Parteidisziplin verrieten Sinowjew und Kamenew den noch nicht veröffentlichten Aufstandsbeschluss in einer nichtbolschewistischen Zeitung. Lenin empörte sich über dieses »Streikbrechertum« seiner langjährigen Weggefährten: »Ich sage offen, dass ich beide nicht mehr als Genossen betrachte und mit aller Kraft sowohl im ZK als auch auf dem Parteitag für den Ausschluss der beiden aus der Partei kämpfen werde«. Rückendeckung bekamen die »Streikbrecher« dagegen vom Chefredakteur der »Rabotschi Put«, Josef Stalin, der die »Schärfe« des Leninschen Briefes rügte und seine »wesentliche« Gesinnungsgenossenschaft mit Sinowjew und Kamenew bekundete.


»Die Eroberung der Verwaltungsorgane«

Am 25. Oktober beschloss das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets die Errichtung eines Revolutionären Militärkomitees (RMK) aus VerteterInnen der Sowjets, des Zentralkomitees der baltischen Flotte, des Finnischen Gebietskomitees, der Betriebskomitees und der Militärorganisation beim ZK der Bolschewiki. Offiziell diente dieses von Leo Trotzki geleitete Komitee - dem sich die Petrograder Garnison ebenso bereitwillig unterstellte wie die seit der Niederschlagung des Kornilow-Putsches bestehende rotgardistische Arbeitermiliz - als revolutionärer Stab zur Verteidigung der Stadt gegen eine drohende deutsche Offensive, gegen Pogrome und zur Aufrechterhaltung der revolutionären Disziplin unter SoldatInnen und ArbeiterInnen. Doch praktisch war das RMK das legale Organ zur Umsetzung des Aufstandsplans.

Zu einer gewaltigen Heerschau der revolutionären Kräfte wurde der »Tag des Petrograder Sowjets« am 4. November. In Betrieben und Truppenteilen, Konzerthallen, Kinos und im Zirkus fanden Massenkundgebungen statt. Die Stadt wurde überflutet von revolutionären ArbeiterInnen, BäuerInnen und SoldatInnen. Eine gegenrevolutionäre Verschwörung stand unmittelbar bevor. Der Stab der Petrogarder Garnison, der das RMK nicht anerkannte, liess Offiziersschüler in die Stadt einrücken. Am frühen Morgen des 6. November wurde die Druckerei des bolschewistischen Zentralorgans Rabotschi Put von den Offiziersschülern geschlossen und das Telefonamt besetzt. Das RMK schickte eine Abteilung MatrosInnen zu diesem Amt und stellte zwei kleine Geschütze auf. So begann die Eroberung der Verwaltungsorgane durch die Bolschewiki.


»Die provisorische Regierung ist gestürzt«

Ohne Blutvergiessen öffneten RotgardistInnen die Druckerei der »Rabotschi Put« wieder. Um 14 Uhr erschien die Zeitung mit dem Aufruf zum Sturz der Provisorischen Regierung: »Alle Macht den Sowjets der Arbeiter, Soldaten und Bauern! Friede, Land, Brot Entweder die Macht verbleibe in den Händen der Bourgeoisie und GutsbesitzerInnen, hiess es - das bedeute Fortsetzung des Krieges, Hunger und Tod -, oder die revolutionären ArbeiterInnen, BäuerInnen und SoldatInnen übernehmen die Macht. Das sei die Zerschmetterung der Gutsbesitzertyrannei und die Niederlage der KapitalistInnen. Die BäuerInnen würden das Land erhalten, die ArbeiterInnen die Kontrolle über die Industrie, die Hungernden Brot, ein sofortiger gerechter Frieden werde verkündet, versprachen die Bolschewiki.

Zum Schutz des Petrograder Sowjets im Smolny liess das RMK zum Schrecken der SozialdemokratInnen eine Maschinengewehrabteilung aufziehen. »Es ist sonnenklar, dass jetzt eine Verzögerung des Aufstands schon wahrhaftig den Tod bedeutet«, warnte Lenin an diesem Abend. »Man muss um jeden Preis heute abend, heute nacht die Regierung verhaften«.

In dieser Nacht besetzten revolutionäre Truppenteile, Kronstädter MatrosInnen und RotgardistInnen nach dem zuvor von Trotzki ausgearbeiteten Plan fast lautlos die Regierungsgebäude, Post- und Telegraphenämter, Bahnhöfe, das Elektrizitätswerk und die Zentralbank. Nirgendwo stiessen sie auf wirklichen Widerstand, häufig wurden sie von revolutionären ArbeiterInnen schon erwartet. BeobachterInnen vermerkten erstaunt, dass selbst die Strassenbahnen während der Revolution weiterfuhren. RotgardistInnen verhinderten, dass die Brücken über die Newa aufgezogen wurden, um die Innenstadt von den Arbeiterbezirken abzuriegeln. Am Morgen des 7. November befand sich Petrograd mit Ausnahme des Winterpalais, in dem sich die Provisorische Regierung verschanzt hatte, unter der Kontrolle der Revolutionäre.

»Die Provisorische Regierung ist gestürzt«, erklärte Lenin um 10 Uhr vormittags in einem Aufruf des RMK »an die Bürger Russlands«. »Die Sache, für die das Volk gekämpft hat: das sofortige Angebot eines demokratischen Friedens, die Aufhebung des Eigentums der Gutsbesitzer am Grund und Boden, die Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Bildung einer Sowjetregierung - sie ist gesichert«. Zu diesem Zeitpunkt flüchtete Kerenski in einem Wagen der US-Botschaft zu den Truppen der Nordfront.
»Der Sturm auf den Winterpalast«

Erstmals nach den Juli-Unruhen trat Lenin am Nachmittag auf einer Sitzung des Petrograder Sowjets wieder an die Öffentlichkeit. »Die unterdrückten Massen werden selbst die Staatsmacht schaffen. Der alte Staatsapparat wird von Grund aus zerschlagen und ein neuer Verwaltungsapparat in Gestalt der Sowjetorganisationen geschaffen werden«, kündigte er an. »In Russland müssen wir jetzt den Aufbau des proletarischen sozialistischen Staates in Angriff nehmen«. Als Verbündete benannte Lenin die Arbeiterbewegung in den anderen kriegführenden Staaten und seine Rede schloss mit dem Ruf: »Es lebe die sozialistische Weltrevolution

Gegen 18 Uhr hatten die RevolutionärInnen den Winterpalast umzingelt. Der Sturm auf das von Offiziersschülern und einem Frauenbataillon verteidigte Gebäude begann gegen 21 Uhr mit dem berühmten Signalschuss des in der Newa vor Anker gegangenen Kreuzers »Aurora«. Die eingedrungenen SoldatenInnen und MatrosInnen stiessen nur auf geringen Widerstand. »Im nächsten Raum trafen wir auf eine ganze Gruppe von Menschen, die die Provisorische Regierung darstellten. Sie sassen am Tisch, ein gräulich bleicher, zitternder Fleck«, schilderte der mit einem Künstlerhut und Zwicker gekleidete Sekretär des RMK, Wladimir Alexandrowitsch Antonow-Owsejenko. »Im Namen des Revolutionären Militärkomitees erkläre ich Sie für verhaftet Die Minister wurden in die Kerker der Peter-Pauls-Festung gebracht.

Beim Sturm des Winterpalastes waren fünf revolutionäre Matrosen und ein Soldat getötet worden, auf Seite der Verteidiger gab es keine Toten. Dass diese sechs Gefallenen die einzigen Toten der Oktoberrevolution in Petrograd blieben, zeigt, wie morsch das alte bürgerliche System und wie gering die Unterstützung für die Provisorische Regierung bereits war.

Russland wird Räterepublik

Während noch Schüsse vom Winterpalast ertönten, eröffnete Kamenew um 22.45 Uhr nachts im Smolny, einer ehemaligen Klosterschule für adelige Mädchen, den Zweiten Gesamtrussischen Kongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Von den 649 Delegierten gehörten jetzt 390 zu den Bolschewiki, 160 zu den SozialrevolutionärInnen und 72 zu den Menschewiki. Angesichts dieser Mehrheitsverhältnisse verliessen die rechten SozialrevolutionärInnen und Menschewiki unter Protest gegen die Erstürmung des Winterpalastes den Kongress. Im Namen der bolschewistischen Fraktion verlas Anatoli Lunatscharski den von Lenin verfassten Aufruf »An die Arbeiter, Soldaten und Bauern. Darin wurde die Übernahme der ganzen Macht durch die Räte verkündet, und diese wurden beauftragt, eine revolutionäre Ordnung zu gewährleisten. Um fünf Uhr morgens bestätigte der Kongress dieses Dokument bei zwei Gegenstimmen und zwölf Enthaltungen. Damit wurde Russland zur Räterepublik.

Die folgende Sitzung des Sowjetkongresses in der Nacht zum 9. November dominierte Lenin. Nach minutenlangem Applaus verlas er eine »Proklamation an alle kriegführenden Völker und Regierungen«, in der der imperialistische Krieg zum grössten Verbrechen an der Menschheit erklärt und ein sofortiger Frieden ohne Annexionen und Kontributionen angeboten wurde. Die Sowjetregierung werde die Geheimdiplomatie abschaffen und alle Verhandlungen offen vor dem Volk führen. Geheimverträge der Provisorischen Regierung, die den Zweck hatten, den russischen GutsbesitzernInnen und KapitalistInnen Privilegien zu verschaffen und die Annexion der GrossrussInnen auf Kosten anderer Völker aufrechtzuerhalten, würden bedingungslos und sofort gekündigt. Abschliessend folgte ein Aufruf an die »klassenbewussten Arbeiter der drei fortgeschrittensten Nationen der Menschheit und der größten am gegenwärtigen Krieg beteiligten Staaten: Englands, Frankreichs und Deutschlands«, »die Sache des Friedens und zugleich damit die Sache der Befreiung der werktätigen und ausgebeuteten Volksmassen von jeder Sklaverei und jeder Ausbeutung erfolgreich zu Ende zu führen«. Einstimmig wurde diese erste Deklaration der Sowjetmacht, die den Ausstieg Russlands aus dem gegenseitigen Völkermorden bedeutete, angenommen und mit dem Absingen der Internationale gefeiert.

Revolutionäre Realpolitik

Um zwei Uhr wurde das nächste Versprechen der Revolution eingelöst. »Das Eigentum der Gutsbesitzer am Grund und Boden wird unverzüglich ohne jede Entschädigung aufgehoben«, verkündete das »Dekret über Grund und Boden«. Die Verwaltung der entschädigungslos enteigneten Ländereien wurde den Landkomitees und Bauernräten anvertraut. Als Richtlinie für die zukünftige Bodenverteilung sollten die vom sozialrevolutionär dominierten Rat der Bauerndeputierten festgelegten Anweisungen dienen, das Land denen zur Nutzung zu überlassen, die es selbst bearbeiten wollten. Weiterverkauf oder die Beschäftigung von LohnarbeiterInnen auf diesem Land sollte verboten werden. Das »Dekret über Grund und Boden« ist ein Meisterstück von Lenins »revolutionärer Realpolitik« (Georg Lukács). Um die Millionenmasse der Bauern, die auch innerhalb der Armee absolut dominierten, für die Revolution zu gewinnen oder sich wenigstens ihre wohlwollende Neutralität zu erkaufen und ein politisches Bündnis mit der neu entstandenen Partei der Linken SozialrevolutionärInnen zu schliessen, übernahm Lenin kurzerhand deren Programm in der Landfrage. »Als demokratische Regierung können wir einen Beschluss der Volksmassen nicht umgehen, selbst wenn wir mit ihm nicht einverstanden wären«, begründete Lenin diese vorübergehende Abkehr vom marxistischen Programm der Kollektivierung der Landwirtschaft zugunsten von Kleinfarmen. »Das Leben ist der beste Lehrmeister, es wird zeigen, wer recht hat; mögen die Bauern an die Lösung dieser Frage von dem einen Ende herangehen und wir von dem anderen. [...] Das Wesentliche ist, dass die Bauernschaft die feste Überzeugung gewinnt, dass es auf dem Lande keine Gutsbesitzer mehr gibt, dass es den Bauern selbst überlassen wird, alle Fragen zu entscheiden, selbst ihr Leben zu gestalten«.

»Übergang zu den laufenden Geschäften«

Schliesslich konstituierte sich auf dem Sowjetkongress die Arbeiter- und Bauernregierung, deren Minister sich zur Abgrenzung von bürgerlichen Kabinetten Rat der Volkskommissare nannten. Da die Linken SozialrevolutionärInnen nicht bereit waren, dieser Regierung beizutreten, solange die anderen sozialistischen Parteien abseits standen, gehörten dem Rat der Volkskommissare nur Bolschewiki an. Lenin wurde dessen Vorsitzender und damit russischer Regierungschef. Trotzki war für die Aussenpolitik zuständig, Stalin für Nationalitätenfragen. Militär- und Marineangelegenheiten wurden einem dreiköpfigen Komitee von Alexandrowitsch Antonow-Owsejenko, Nikolai W. Krylenko und Pawel J. Dybenko übertragen. Volkskommissar für Volksaufklärung wurde Anatoli W. Lunatscharski. Abschliessend erfolgte die Neuwahl des 101köpfigen Zentralexekutivkomitees der Räte, in das neben 62 Bolschewiki auch 29 linke SozialrevolutionärInnen gewählt wurden.

Eine Episode am Rande beschreibt Trotzki: »Die Macht ist erobert, mindestens in Petrograd. Lenin hat noch keine Zeit gehabt, seinen Kragen zu wechseln. Auf dem müden Gesicht wachen Lenins Augen. Sie blicken auf mich freundschaftlich milde, mit eckiger Verlegenheit innere Nähe ausdrückend. 'Wissen Sie', sagte er zögernd, 'gleich nach den Verfolgungen und der Illegalität zur Macht (...)', er suchte nach einem Ausdruck, geht plötzlich in die deutsche Sprache über: 'es schwindelt'. Er macht eine kreisende Handbewegung um den Kopf. Wir blicken einander an und lächeln kaum. Das Ganze dauert kaum eine bis zwei Minuten. Dann - einfacher Übergang zu den laufenden Geschäften«


Zum Autor

Nick Brauns promovierte in München über die Rote Hilfe Deutschlands. Er veröffentlichte eine Reihe von Büchern und Artikeln zur Geschichte der ArbeiterInnenbewegung in Deutschland sowie zur Geschichte und Politik der Türkei und des Nahen Ostens. Er ist seit 1997 regelmässiger freier Autor der Tageszeitung "junge Welt", deren bayerisches Regionalbüro er im Jahr 2006 für ein Jahr geleitet hatte. Brauns lebt und arbeitet in Berlin. Seit 2007 ist er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter der innenpolitischen Sprecherin der Linksfraktion Ulla Jelpke im Deutschen Bundestag tätig. Er gehört selbst keiner Partei an. Er ist Vorsitzender des nach einem unter dem Nationalsozialismus ermordeten Rechtsanwalt der Roten Hilfe Deutschlands benannten Hans Litten-Archiv e.V. (Verein zur Errichtung und Förderung eines Archivs der Solidaritätsorganisationen der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung und der sozialen Bewegungen) in Göttingen.

*
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 05/06/2017 - 73. Jahrgang - 17. Februar 2017, S. 10-11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch

vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis