Roadmap zum Frieden?

Abdullah Öcalan, Die Roadmap für Verhandlungen: Gefängnisschriften.
Bonn 2013: Pahl-Rugenstein. 146 Seiten, Paperback: 9,90 Euro.


von Nick Brauns

Zwischen dem in Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali gefangene Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, und dem türkischen Geheimdienst laufen derzeit Verhandlungen über ein Ende des Krieges in Kurdistan. Wie eine solche Lösung aussehen könnte, hat Öcalan bereits im Jahr 2009 in einer „Roadmap für Verhandlungen“ skizziert. Der vom türkischen Staat eineinhalb Jahre lang geheim gehaltene Text ist auch für die weiteren Verhandlungen von zentraler Bedeutung, betont die Internationale Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan –  Frieden in Kurdistan“; sie ist die Herausgeberin der nun vom Pahl-Rugenstein Verlag vorgelegten deutschen Übersetzung.

 

Türkische Regierungspolitiker verkünden gern eine “Lösung” der kurdischen Frage noch in diesem Sommer und setzen sie mit der Entwaffnung der PKK gleich – ein irreales Wunschdenken. Öcalan denkt in weiten historischen und geopolitischen Zusammenhängen. Sein Projekt ist die Wiederbegründung der über Jahrhunderte bestehenden „historischen Allianz zwischen Anatolien und Mesopotamien“ in Form einer „demokratischen Türkei und eines freien Kurdistan“ sowie die Wiederherstellung des Gründungskonsenses der Republik, wie er sich in der ersten Verfassung von 1921 widerspiegelte.

Während der „jakobinischen Revolution“ im türkischen Befreiungskrieg 1920–1922 habe in der Nationalversammlung noch eine „solide Allianz demokratischer Elemente“ aus „laizistischen türkischen Nationalisten, Sozialisten, islamischen Verfechtern der Umma und Repräsentanten der kurdischen Gesellschaft“ bestanden. Doch Staatsgründer Mustafa Kemal „konnte die Republik nur durch Kompromisse mit dem Britischen Empire am Leben halten“, so dass auf äußeren Druck hintereinander Sozialisten, Islamisten und Kurden aus dem republikanischen Konsens ausgeschlossen und ihre Repräsentanten ermordet wurden.

Für diese Politik des extremen türkischen Nationalismus, die zum „kulturellen kurdischen Genozid“ führte, macht Öcalan pro-britisch gewendete, ehemalige Kader des jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ im türkischen Staatsapparat wie Kazim Karabekir und Ismet Inönü (Nachfolger von Mustafa Kemal) verantwortlich, nimmt aber ausdrücklich den nicht aus dieser politischen Tradition stammenden Mustafa Kemal in Schutz. Nicht nur die ideologische, sondern auch die politische Tradition der anfangs als Geheimorganisation innerhalb des Osmanischen Staates konstituierten und 1908 durch eine Militärrevolte an die Macht gelangten Jungtürken wirkte in der Republik in Form von „Putschismus und Geheimbündelei“ fort. Als Schutzmächte dieses „tiefen Staates“ traten zuerst Großbritannien, nach dem Zweiten Weltkrieg die USA auf. Unklar ist, woher Öcalan seine Zuversicht nimmt, die USA würden einer eigenständigen demokratischen Entwicklung der Türkei nicht länger im Wege stehen – schließlich fungiert die Türkei unter der AKP weiterhin als das islamische trojanische Pferd der NATO im Nahen Osten.

Durch die Übernahme der „vulgärmaterialistisch-positivistischen“ Denkweise seien in der Türkei Begriffe wie Nation, Staat und Klasse mit einer höheren Bedeutung aufgeladen worden, als selbst der Begriff „Allah“. Dagegen sei es unverzichtbar, auf religiöse und moralische Institutionen zurückzugreifen, die im Mittleren Osten über Jahrtausende hinweg den Bezugsrahmen für die Suche nach Problemlösungen gebildeten haben. Daher fordert Öcalan einen Bruch mit der „eurozentrierten ideologischen Hegemonie“.

„Ein Staat kann nicht gleichzeitig Nationalstaat und demokratischer Staat sein.“ Mit diesem Satz erteilt Öcalan traditionellen Lösungsmodellen für die nationale Frage wie Eigenstaatlichkeit oder territoriale Autonomie eine Absage. Die Türkei könne durch eine neue, weder ethnische noch religiöse Identitäten betonende, Definition der  Staatsbürgerschaft zur „gemeinsamen demokratischen Heimat“ aller in der Region lebenden ethnischen und religiösen Gruppierungen werden. Gegen staatliche Lösungsmodelle stellt Öcalan in der Tradition der anarchistischen Staatskritik seine Vision eines „demokratischen Konföderalismus der Zivilgesellschaft“, also die basisdemokratische Selbstorganisation kommunaler Einheiten.

Erst auf den letzten drei Seiten des Buches stellt Öcalan konkrete Schritte eines Lösungsplans vor. Nach der Verkündung einer dauerhaften Waffenruhe durch die PKK soll demnach auf Initiative von Regierung und Parlament eine Wahrheits- und Versöhnungskommission Vorbereitungen für eine umfassende Amnestie treffen. Auf die Freilassung der kurdischen politischen Gefangenen könnte dann ein Rückzug der Guerilla vom türkischen Territorium erfolgen. Nach gesetzlichen und verfassungsmäßigen Garantien könnten PKK-Mitglieder legal in der Türkei politisch tätig werden. Allerdings betont Öcalan das Recht jeder Gemeinschaft, sich auch als Selbstverteidigungseinheit zu konstituieren. Obwohl dieser Punkt nicht weiter konkretisiert wird, wurde in türkischen Medien darunter die Beibehaltung der Guerilla oder ihre Umwandlung in eine Miliz verstanden. In dieser Frage dürfte ein besonderer Knackpunkt des beginnenden Friedensprozesses liegen.

Aus: Soz – Sozialistische Zeitung Nr. 4/2013