Noch in diesem Frühjahr sollen die inhaltlichen EU-Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei beginnen. Insbesondere das deutsche Großkapital befürwortet eine
weitere EU-Anbindung des Landes. So heißt es in einer Erklärung des
Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Außenhandels vom 18. September 2004:
»Der Wettstreit um Märkte, Kapital und Arbeit zwischen Europa, den USA und
Asien wird im 21. Jahrhundert massiv zunehmen. ... Hier bietet die Türkei neben
dem demographischen Faktor auch politische und wirtschaftliche Standortvorteile
durch die Größe und Lage des Landes. Man sollte den Einfluß der Türkei auf die
turksprachigen Länder Zentralasiens nicht unterschätzen. Europa wird mehr
Profit aus einem Beitritt ziehen als die Skeptiker und Mahner heute glauben.«
Uneinigkeit herrscht unter deutschen und europäischen Kapitalverbänden über die
Kosten der Nahostexpansion. Hier befürwortet etwa Kanzlerin Angela Merkel die
Fortführung einer »privilegierten Partnerschaft« aus Zollunion und
NATO-Waffenbrüderschaft ohne der Türkei Rechte wie Freizügigkeit und
EU-Subventionen zu gewähren. Mit seiner Nahostorientierung knüpft das deutsche
Kapital lückenlos an eine rund 150jährige Tradition deutscher Türkeipolitik an.
Bereits vor 90 Jahren hat die Sozialistin Rosa Luxemburg in ihrer während
der Haft verfaßten und Anfang 1916 veröffentlichten Junius-Broschüre (»Die
Krise der Sozialdemokratie«) diese Stoßrichtung des deutschen Imperialismus
einer Kritik unterzogen. Ausgehend von Karl Marx' berühmter Inauguraladresse
(MEW 16, S. 5–13), wonach Kämpfe um die auswärtige Politik Teil des allgemeinen
Kampfes für die Emanzipation des Proletariats seien, war die Marxistin eine
aufmerksame Beobachterin der Zustände in der Türkei. Bereits 1896 analysierte
sie die sozioökonomischen Ursachen der sogenannten orientalischen Krise.
Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Osmanische Reich eine
naturalwirtschaftlich geprägte orientalische Despotie gewesen. Auf den
ökonomischen und militärischen Druck der europäischen Staaten und Rußlands
reagierte Sultan Mahmud II. mit der Schaffung eines stehenden Heeres und einer
zentralisierten Bürokratie. Diese kostspieligen Reformen brachten eine
ungeheure Verschlechterung der Lage des Volkes mit sich. »Während bei uns die
Zentralregierung das Volk rupft und daraus ihr Beamtentum unterhält, rupft hier
umgekehrt das Beamtentum auf eigene Faust das Volk und unterhält daraus die
Zentralregierung. Das Beamtentum erscheint somit in der Türkei als eine
besondere, zahlreiche Bevölkerungsklasse, welche in eigener Person unmittelbar
einen ökonomischen Faktor darstellt und in ihrer Existenz auf die berufsmäßige
Ausplünderung des Volkes angewiesen ist«, schrieb Rosa Luxemburg in ihrer
Schrift »Die nationalen Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie« (GW 1.1,
S. 59). Ökonomisch blieb das Land bei einer primitiven bäuerlichen
Landwirtschaft mit vielfach halbfeudalem Charakter. Alle Versuche zum Aufbau
einer eigenen Industrie schlugen fehl. »Das Fehlen der elementarsten
Voraussetzungen der bürgerlichen Ordnung: der persönlichen und der
Eigentumssicherheit, der wenigstens formellen Gleichheit vor dem Gesetz, eines
vom kirchlichen getrennten Zivilrechts, moderner Verkehrsmittel etc. macht das
Aufkommen der kapitalistischen Produktionsformen zur absoluten Unmöglichkeit.
In derselben Richtung wirkt die Handelspolitik der europäischen Staaten der
Türkei gegenüber, die ihre politische Machtlosigkeit auch dazu ausnutzen, sich
in ihr einen schutzlosen Absatzmarkt für die eigenen Industrien zu sichern.«
(ebd., S. 60 f.) Nach dem Staatsbankrott 1875 wurden die türkischen Finanzen
der Kontrolle eines internationalen Gläubigerkartells unterstellt. Wie die
Geier kreisten die europäischen Großmächte und Rußland um den »Kranken Mann am
Bosporus«. Dardanellen und Suezkanal, der Landweg nach Indien, die Rohstoffe
Mesopotamiens und des benachbarten Kaukasus verliehen dem Osmanischen Reich
eine enorme geostrategische Bedeutung.
Zur Schwächung des Vielvölkerstaates trugen die nach Unabhängigkeit
strebenden christlichen Nationen bei. Immer wieder loderten in Armenien, Kreta
und Makedonien Aufstände gegen die türkische Fremdherrschaft auf, die blutig
niedergeschlagen wurden. Da rechtlich schlechter gestellte Christen als Pächter
von moslemischen Großgrundbesitzern ausgebeutet wurden, hatte ihr nationaler
Kampf zugleich klassenkämpferischen Inhalt. Weil sich die Türkei als Ganzes
nicht regenerieren könne, so Rosa Luxemburg, »ergab sich eine natürliche
Tendenz der verschiedenen Nationalitäten, aus dem Ganzen zu entkommen und in
einer selbständigen Existenz instinktmäßig den Weg zur höheren sozialen
Entwicklung zu suchen. Damit war über die Türkei das historische Urteil
gesprochen: Sie ging dem Zerfall entgegen.« (ebd., S. 62) Erst die
Unabhängigkeit würde den christlichen Nationen eine moderne kapitalistische
Entwicklung ermöglichen.
Auffassungen innerhalb der Sozialdemokratie, die diese nationalen Aufstände
als »künstlich erzeugte Putsche der Agenten der russischen Regierung«
verurteilten, wies Rosa Luxemburg zurück: »Für die Integrität der Türkei
einzutreten heißt heute im Grunde genommen, der russischen Diplomatie in die
Hände zu arbeiten«. (ebd., S. 67) Auch für die Türkei sei die Lostrennung der
christlichen Nationen wünschenswert, denn »von dieser christlichen Plage
befreit, wird die Türkei zweifellos eine freiere Stellung in der
internationalen Politik einnehmen, ihr Staatsgebiet den Defensivkräften kommensurabler
sein, vor allem wird sie aber den inneren Feind, den natürlichen Bundesgenossen
jedes auswärtigen Angreifers, loswerden.« (ebd., S. 66) Die Sozialdemokratie
müsse daher das Selbständigkeitsstreben der christlichen Nationen »als ein
Kampfmittel gegen das zaristische Rußland begrüßen und mit Nachdruck für ihre
Unabhängigkeit ebenso gegen Rußland wie gegen die Türkei eintreten« (ebd., S.
67).
Ende des 19. Jahrhunderts war das Deutsche Reich in sein imperialistisches
Stadium eingetreten und das Finanzkapital suchte neue Märkte, Anlagefelder und
Rohstoffreservoirs außerhalb Deutschlands. »Das wichtigste Operationsfeld des
deutschen Imperialismus wurde die Türkei, sein Schrittmacher hier die Deutsche
Bank und ihre Riesengeschäfte in Asien, die im Mittelpunkt der deutschen
Orientpolitik stehen«, heißt es in der Junius-Broschüre.
Da der Ruf des preußischen Militarismus auch in die Türkei gedrungen war und
das Reich als einzige Großmacht vorerst keine Gebietsansprüche stellte, hatte
Sultan Abdul Hamid II. bereits 1882 eine deutsche Militärmission mit der Reorganisation
der maroden türkischen Armee beauftragt. Für das Deutsche Reich bedeutete dies
wachsenden politischen Einfluß und lukrative Rüstungsgeschäfte für Krupp und
Co.
Neben der Rüstungsindustrie wurde der Bahnbau zum wichtigsten Instrument für
das Eindringen deutschen Kapitals in die Türkei. Dieser Eisenbahnbau in
Kleinasien und Mesopotamien seit Ende des 19. Jahrhunderts diene »fast
ausschließlich den Zwecken der imperialistischen Politik, der wirtschaftlichen
Monopolisierung und der politischen Unterwerfung der Hinterländer«, schreibt
Rosa Luxemburg in »Die Akkumulation des Kapitals« (GW 5, S. 367 f.). So erhielt
die Anatolische Eisenbahngesellschaft, hinter der die Deutsche Bank stand, 1888
die Konzession zum Bau einer Bahnlinie von Ismid bis Angora (Ankara). 1899 kam
eine Konzession zum Bau und Betrieb des Hafens von Haidar-Pascha im asiatischen
Teil Konstantinopels dazu. Mit Kaiser Wilhelms II. Schwur in Damaskus 1898, ein
treuer Freund der muslimischen Welt zu sein, wurde der Vorstoß des deutschen
Imperialismus in den Orient zur Chefsache. Zum konfliktträchtigen Symbol
deutscher Weltpolitik sollte ab 1902 der Bau der Bagdadbahn von Konia über
Bagdad zum Persischen Golf werden. Die von der Deutschen Bank geführte
Aktiengesellschaft erlangte zugleich Schürfrechte im mesopotamischen Ölgebiet
um Mossul und Basra.
»Die kleinasiatische Bauernwirtschaft wird zum Objekt eines
wohlorganisierten Aussaugungsprozesses zu Nutz und Frommen des europäischen, in
diesem Falle vor allem des deutschen Bank- und Industriekapitals«, heißt es in
Luxemburgs Junius-Broschüre. »Damit wachsen die ›Interessensphären‹
Deutschlands in der Türkei, die wiederum Grundlage und Anlaß zur politischen
›Beschützung‹ der Türkei abgeben. Zugleich wird der für die wirtschaftliche
Ausnutzung des Bauerntums nötige Saugapparat, die türkische Regierung, zum
gehorsamen Werkzeug, zum Vasallen der deutschen auswärtigen Politik. Schon von
früher her standen türkische Finanzen, Zollpolitik, Steuerpolitik,
Staatsausgaben, unter europäischer Kontrolle. Der deutsche Einfluß hat sich
namentlich der Militärorganisation bemächtigt.« (GW 4, S. 83-86)
Neben der direkten Verschuldung beim deutschen Kapital durch Anleihen
verpflichtete sich der türkische Staat zu jährlichen Kilometergarantien für die
Bagdadbahngesellschaft. Als Sicherheit für diese Zuschüsse dienten die
»Zehnten« einer Reihe von Provinzen. Diese in der orientalischen Despotie
wurzelnde Naturalsteuer belief sich auf bis zu 12,5 Prozent der
Agrarerzeugnisse eines Bauern und wurde durch ein weitverzweigtes System von
Steuerpächtern eingetrieben. »Der Stoffwechsel geht hier in seiner brutalen und
unverblümten Form direkt zwischen dem europäischen Kapital und der asiatischen
Bauernwirtschaft vor sich, während der türkische Staat auf seine wirkliche
Rolle des politischen Apparats zur Auspressung der Bauernwirtschaft für die
Zwecke des Kapitals – die eigentliche Funktion aller orientalischen Staaten in
der Periode des kapitalistischen Imperialismus – reduziert wird«, schrieb Rosa
Luxemburg. »Bei dieser Funktion wandert das Geld aus der Hand des türkischen
Staates in die Kassen der Deutschen Bank, um hier als Gründergewinne,
Tantiemen, Dividenden und Zinsen in den Taschen der Herren Gwinner, Siemens,
ihrer Mitverwalter, der Aktionäre und Kunden der Deutschen Bank sowie des
ganzen Schlingpflanzensystems ihrer Tochtergesellschaften als kapitalistischer
Mehrwert akkumuliert zu werden.« (GW 5, S. 390)
1912/13 nutzten die Balkanbundstaaten Serbien, Griechenland, Montenegro und
Bulgarien die Schwäche der Türkei, um die verbliebenen osmanischen Provinzen
auf dem Balkan zu erobern. Doch der Befreiungskrieg von der türkischen
Herrschaft schlug um in gegenseitige Eroberungskriege der Balkanstaaten
untereinander, bei denen die imperialistischen Blöcke im Hintergrund ihre
Ausgangspositionen für die weitere Aufteilung der Türkei absteckten. Hatte Rosa
Luxemburg in den 1890er Jahren noch die Unabhängigkeitsbestrebungen der
christlichen Völker verteidigt, so nahm sie im Balkankrieg einen defätistischen
Standpunkt gegenüber allen Kriegsparteien ein. »Der Krieg auf dem Balkan ist
formal genommen ein Angriffskrieg gegen die Türkei. Aber die Machthaber der
angreifenden Nationen zerfließen in Beteuerungen über die Verteidigung der
heiligsten nationalen Rechte und des christlichen Glaubens gegen die Türken,
und auch sie haben recht. Daraus haben wir den Schluß zu ziehen, wir als
Proletarier haben uns gegen jeden Krieg zu wenden, gleichviel ob Angriffs- oder
Verteidigungskrieg. Wir erkennen in ihm eine Folge des Imperialismus, und wie
den Imperialismus als Ganzes, so bekämpfen wir auch jede seiner
Teilerscheinungen.« (GW 3, S. 215) Bei Abschluß des Friedensvertrages von
London, der im Mai 1913 fast alle europäischen Besitzungen der Türkei den
Balkanstaaten zuschlug, warnte Rosa Luxemburg: »Der Frieden am Balkan bedeutet
die Zerreißung der europäischen Türkei und gleichzeitig die sichere Gewähr für
den nächsten Krieg um die asiatische Türkei.« (ebd., S. 213)
Hatten die Großmächte bisher auf eine Politik der friedlichen Durchdringung
gesetzt, um wirtschaftlichen, militärischen und politischen Einfluß innerhalb
der Türkei zu erlangen, so eröffneten die Balkankriege das Rennen um die
militärische Aufteilung des osmanischen Erbes. »Der Weg [Rußlands] zu den Dardanellen
führt über die Leiche der Türkei, Deutschland betrachtet aber seit einem
Jahrzehnt die Integrität dieser Leiche für seine vornehmste weltpolitische
Aufgabe«, benannte Rosa Luxemburg den innerimperialistischen Widerspruch, der
zum Krieg im Orient führte. »Jetzt aber paßt die endliche Liquidation der
Türkei in die Pläne Rußlands sowohl wie der englischen Politik, die ihrerseits
zur Stärkung der eigenen Position in Indien und Ägypten die dazwischen
liegenden türkischen Gebiete Arabien und Mesopotamien – zu einem großen
mohammedanischen Reich unter britischen Zepter zu vereinigen strebt. So geriet
im Orient der russische Imperialismus, wie früher schon der englische, auf den
deutschen, der in der Rolle des privilegierten Nutznießers der türkischen Zersetzung
als ihre Schildwache am Bosporus Posto gefaßt hatte.« (GW 4, S. 83–86)
Kriegszieldenkschriften des deutschen Monopolkapitals wiesen der türkischen
Armee die Aufgabe zu, für Deutschland die Kastanien aus dem Feuer zu holen,
also die Kaukasusgebiete mit den Ölquellen am Kaspischen Meer zu erobern. Einen
Tag nach der deutschen Kriegserklärung an Rußland unterzeichneten am 2. August
1914 die führenden Männer der jungtürkischen Junta Enver und Talaat einen
geheimen Bündnisvertrag, der die Türkei zum integralen Bestandteil des
verhängnisvollen deutsch-österreichischen Nibelungenbündnisses machte. Nach
außen verkündete die türkische Regierung die »bewaffnete Neutralität«, um Zeit
für die Mobilmachung der Truppe zu gewinnen.
Als sich abzeichnete, daß die aus den Balkankriegen geschwächt
hervorgegangene türkische Armee unter Leitung der deutschen Militärmission des
Generals Liman von Sanders zu einem schlagkräftigen Bündnispartner geworden
war, drängte die Oberste Heeresleitung auf den Kriegseintritt. Um zögerliche
Mitglieder der türkischen Regierung vor vollendete Tatsachen zu stellen, ließ
Enver am 28. Oktober eigenmächtig die in türkischen Besitz übergegangenen
deutschen Kriegsschiffe Breslau und Goeben unter dem Kommando des deutschen
Admirals Souchon ins Schwarze Meer auslaufen und ohne Kriegserklärung russische
Hafenstädte beschießen. Rußland reagierte am 2. November mit der
Kriegserklärung an die Türkei, die anderen Ententemächte folgten.
Der für sie überraschende türkische Kriegseintritt symbolisierte für Rosa
Luxemburg den Übergang zum Weltkrieg: »Aus den Vorgängen der jüngsten Zeit aber
ist insbesondere der neue, zu Beginn des Krieges ganz unvorhergesehene Umstand
ins Auge zu fassen: der Eintritt der Türkei in das allgemeine Ringen. Nachdem
auch dieser alte Wetterwinkel internationaler Stürme, der nach drei Weltteilen
Blitze und Erdbeben ausstrahlt, mit in die Katastrophe hineingerissen worden,
muß es jedermann klar sein, daß es heute nicht mehr um Haus und Hof, um das
Dach über dem eigenen Haupte und die traute nationale Heimat geht, sondern daß
wir mitten in einer neuen Weltordnung und Weltverteilung stehen, in einer
Krise, deren Dauer, Tragweite, Opfer und Folgen für alle Völker unübersehbar
sind. Die Geister, die sie rief, die bürgerliche Welt, sie führen ihren
rasenden Höllentanz auf.« (GW 4, S. 14)
Dabei war Rosa Luxemburg keineswegs vom militärischen Nutzen der
deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft überzeugt. »Mit der Türkei machen unsere
Diplomaten, wie mir scheint, den tollsten Strich gegen die eigenen Interessen«,
schrieb sie Anfang November 1914 an Kostja Zetkin. »Man hetzt die T[ürkei] in
den Krieg, und das Ende wird natürlich sein, daß Griechenland, Rumänien,
Italien auch eingreifen, zum Schluß wird die Türkei und auch Österreich liquidiert
werden«, prophezeite sie das baldige Ende der Vielvölkerstaaten. (Gesammelte
Briefe Bd.5, S. 23 f.)
Bereits die Erfahrung der bürgerlichen türkischen Revolution von 1908/09
hatte gezeigt, daß auch die Jungtürken unfähig zu einem wirtschaftlichen,
sozialen und nationalen Reformprogramm waren. Alsbald kehrten sie »mit
Naturnotwendigkeit zu den altväterlichen Herrschaftsmethoden Abdul Hamids, das
heißt zu dem periodisch organisierten Blutbad zwischen den aufeinandergehetzten
unterjochten Völkern und zur schrankenlosen orientalischen Auspressung des
Bauerntums als zu den zwei Grundpfeilern des Staates zurück.« (GW 4, S. 87) Das
Schlimmste dieser Blutbäder wurde 1915/16 der Genozid an über einer Million
Armeniern durch die jungtürkische Junta und ihre deutschen Militärberater. Als
Rosa Luxemburgs Genosse Karl Liebknecht als einziger Abgeordneter die
»Ausrottung der türkischen Armenier« im Reichstag anprangerte, wurde er
niedergebrüllt.
Während die Oberste Heeresleitung und ihre türkischen Waffenbrüder noch von
weitreichenden Eroberungsplänen bis nach Indien träumten, war für Rosa
Luxemburg klar, daß angesichts der ökonomisch-sozialen Probleme im Osmanischen
Reich eine Regeneration einem »rein künstliche(n) Galvanisierungsversuch an
einem Leichnam« gleichkam. »Es war auch eine echt preußische Idee, daß es
lediglich strategischer Eisenbahnen zur raschen Mobilisation und schneidiger
Militärinstrukteure bedürfe, um eine so morsche Baracke wie den türkischen
Staat lebensfähig zu machen.« (ebd.)
Die von Rosa Luxemburg skizzierten Grundlinien deutscher Türkeipolitik
bestehen bis zum heutigen Tage fort. Die Waffenbrüderschaft, die sich heute vor
allem gegen die Kurden richtet, wird im Rahmen der NATO fortgeführt. Als
Instrumente der Ausplünderung der Türkei dienen dem deutschen Großkapital die
Zollunion und die von der EU diktierten ökonomischen Bedingungen für einen
Beitritt zur Union. Doch wie vor dem Ersten Weltkrieg scheint der türkische
Staat im Kern reformunfähig zu sein und reagiert auf imperialistische
Begehrlichkeiten mit einer Verschärfung der inneren Repression.