Aus: junge Welt Ausgabe
vom 22.12.2017, Seite 10 / Feuilleton
Der Berliner Bezirk Charlottenburg
wurde in den 1920er Jahren mitunter »Charlottengrad« genannt, weil sich in ihm
eine große russische Exilcommunity angesiedelt hatte. Deren oft wohlhabende
Mitglieder waren vor der revolutionären Umwälzung in ihrer Heimat geflohen.
100 Jahre nach diesen antikommunistischen Exilanten ist nun auch
die Revolution in der Charlottenburger Schloßstraße
angekommen. Pünktlich zum Jahrestag des Oktoberumsturzes wurde im Bröhan-Museum für Jugendstil, Art Deco
und Funktionalismus, die Ausstellung »The Paper Revolution. Sowjetisches
Grafikdesign der 1920er und 1930er Jahre« eröffnet, in Kooperation mit dem
Moskauer Design Museum. Gezeigt werden rund 100 Plakate, Buchumschläge,
Zeitschriften, Postkarten sowie einige Keramikteller
von sowjetischen Künstlern wie Alexander Rodtschenko,
El Lissitzky, Warwara Stepanowa, Gustav Klutsis oder
Valentina Kulagina.
Plakate, Zeitschriften und Bucheinbände waren nach der
Oktoberrevolution wichtige Propagandamittel des jungen Sowjetstaates.
Zeitungskioske, in denen farbenfrohe Zeitschriftentitel von Blättern wie LEF(Linke Front
der Künste), Der
Bau Moskaus oder das Magazin
der Frau um die Aufmerksamkeit der Passanten warben, wurden zu
einem neuen, markanten Element der sowjetischen Stadtlandschaft.
Inspiriert von der politischen und gesellschaftlichen Dynamik
entwickelten revolutionäre Künstler eine eigene visuelle Sprache. So entstand
Anfang der 1920er Jahre der Konstruktivismus als neue
künstlerische Bewegung. Charakteristisch war das Spiel mit der Schrift. In
Entwürfen von El Lissitzky
und Rodtschenko wurden Pfeile, Fettungen,
Unterstreichungen und vergrößerte Satzzeichen zur Betonung von Textteilen
eingesetzt.
Bereits vor der Revolution hatte Kasimir Malewitsch
einen neuen, Suprematismus genannten Stil entwickelt, der auf der geometrischen
Abstraktion basierte. Die von Malewitsch an der
Kunsthochschule Witebsk mitbegründete, suprematistische
Künstlergruppe UNOWIS (ein Akronym für »Die Verfechter der neuen Kunst«) setzte
ab 1919 rein abstrakte Formen für die politische Propaganda ein. Schwarze
Quadrate und rote Kreise wurden zu den populären Erkennungszeichen des
sowjetischen Grafikdesigns. Bekanntestes Beispiel dürfte das während des
Bürgerkrieges im Jahr 1920 von Malewitschs Schüler El Lissitzky geschaffene
Propagandaplakat »Schlagt die Weißen mit dem roten Keil« sein. Dieses ikonische
Plakat, das zum Kampf gegen die Konterrevolution mobilisieren sollte, ist in
der Berliner Ausstellung zwar nicht zu sehen, doch eine Reihe von Buch- und
Zeitschriftentiteln, die El Lissitzky
entworfen hat, sowie Montagen des ebenfalls in suprematistischer
Tradition stehenden Gustav Klutsis.
Die Collage war beliebtes Element der sowjetischen Propaganda, als
Ausgangspunkt gilt Rodtschenkos Illustration zu
Wladimir Majakowskis 1923 erschienenem Gedicht »Das
bewusste Thema«. 1931 fragte Wassili Elin in einer Fotomontage, die den
Revolutionsführer beim Spaziergang zeigt: »Wie verbrachte Lenin seine Freizeit?« Der Genuss moderner Kunst gehörte offenbar nicht zu
Lenins Vorlieben. Anders als sein Genosse Trotzki wusste der Kopf der
Bolschewiki mit der künstlerischen Avantgarde wenig anzufangen. Kunst sei nur
dann verwertbar, wenn sie von der Allgemeinheit verstanden und akzeptiert
würde, lautete sein Credo.
Vor dem Hintergrund zunehmender Bürokratisierung des Sowjetstaates
und einem damit verbundenen Absterben des revolutionären Impetus setzte sich ab
Mitte der 1920er Jahre der sozialistische Realismus als primäre künstlerische
Ausdrucksform durch. Diese Kunst würde – so die Hoffnung des neuen Kremlherrn
Stalin – von den ungebildeten Arbeitern und Bauern eher verstanden als Quadrate
und Kreise. Anklänge an die Ikonenmalerei der orthodoxen Kirche waren bei
Kompositionen, in denen gigantische Führerfiguren gesichtslosen Menschenmassen
gegenüberstehen, durchaus gewollt. Schließlich sollte die religiös geprägte,
vielfach noch analphabetische Bevölkerung des Agrarlandes für den
sozialistischen Aufbau gewonnen werden. Die ab 1930 erscheinende
Zeitschrift UdSSR
im Aufbausetzte als Fotomagazin ganz auf die Überzeugungskraft des
Bildes. Sie erinnerte an mittelalterliche Armenbibeln, die mit ihren
Bilderzyklen zur Unterweisung der Schriftunkundigen dienten, heißt es im
Begleittext der Ausstellung.
Mehr Hintergrundinformationen zu den gesellschaftlichen
Veränderungen in Sowjetrussland der 1920er und frühen 30er Jahre wären
wünschenswert gewesen, das gilt auch für die Biographien der Künstler.
The Paper Revolution. Sowjetisches Grafikdesign der 1920er und
1930er Jahre. Läuft noch bis 21.1.2018, Bröhan-Museum
für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus, Berlin