Über ein Familientreffen besonderer Art informierte die Sozialistin Käte
Duncker Anfang Januar 1916 ihren zum Landsturm an der Ostfront einberufenen
Mann Hermann: »Gestern, den 2., war eine größere Familienbesprechung zusammen
mit Onkel Franz und Karl. Es handelte sich um die Ordnung des Nachlasses von
Tante Rosa. ... Wir einigten uns auf Tante Rosas Testament und machten dadurch
einen Trennungsstrich zwischen uns und der Familie von Onkel Georg.« Aus
Zensurgründen als Testamentsvollstreckung umschrieben, war hier die
Reichstagung der zur Gruppe Internationale zusammengeschlossenen
revolutionär-marxistischen Kriegsgegner innerhalb der deutschen
Sozialdemokratie gemeint. »Onkel Karl« war Karl Liebknecht, »Onkel Franz« der
marxistische Historiker Franz Mehring und »Tante Rosa« natürlich Rosa
Luxemburg, deren im Gefängnis entworfene »Leitsätze über die Aufgaben der
internationalen Sozialdemokratie« auf der Tagung verabschiedet wurden.
Zu den von Kurieren auf Kreuz- und Querwegen zu Liebknechts Rechtsanwaltskanzlei
in der Berliner Chausseestraße geführten Konferenzteilnehmern gehörten auch
Hugo Eberlein, Ernst Meyer und Wilhelm Pieck aus Berlin, Otto Rühle aus
Dresden, Georg Schumann aus Leipzig, August und Berta Thalheimer aus
Braunschweig bzw. Cannstatt sowie die Vertreter der Bremer und Hamburger
Linksradikalen Johann Knief und Rudolf Lindau.
Mit den Leitsätzen Luxemburgs gab sich die marxistische Linke in Deutschland
eine programmatische Plattform, in der sie sich zum Klassenkampf und zur
Diktatur des Proletariats bekannten. Angesichts des Verrats der II.
Internationale durch die Zustimmung ihrer Mitgliedsparteien zu den
Kriegskrediten sei die Schaffung einer neuen Arbeiter-Internationale eine
»Lebensnotwendigkeit für den Sozialismus«. »Die Pflicht zur Ausführung der
Beschlüsse der Internationale geht allen anderen Organisationspflichten voran«,
wurde der Demokratische Zentralismus zum Leitgesetz der neuen Internationale
erklärt.
Weiterhin wurde die Herausgabe eines regelmäßigen Mitteilungsblattes
beschlossen. »Mit Parteigruß: Spartacus« unterzeichnete Karl Liebknecht am 27.
Januar 1916 erstmals diese »Politischen Briefe« mit dem Namen des legendären
Führers des römischen Sklavenaufstandes. Die erst hektographierten und ab
September 1916 in einer illegalen Druckerei vervielfältigten »Spartacusbriefe«
kursierten unter Arbeitern und Frontsoldaten und berichteten über revolutionäre
Ereignisse in Deutschland und anderen Ländern, die von der offiziellen
sozialdemokratischen Parteipresse unterdrückt wurden. Sie informierten über
Liebknechts Anfragen im Parlament und sein Auftreten vor Gericht. Gegen den
kriegstreiberischen Sozialchauvinismus und pazifistische Illusionen über
Friedensschlüsse durch internationale Schiedsgerichte forderte Spartacus:
»Nicht Burgfrieden, sondern Burgkrieg!«
Insbesondere rechnete Liebknecht mit der Halbherzigkeit der »Dezembermänner«
um »Onkel Georg« Ledebour ab. Am 21. Dezember 1915 hatten unter dem Druck einer
wachsenden Antikriegsstimmung außer Liebknecht und Otto Rühle 18 weitere
sozialdemokratische Abgeordnete, darunter Ledebour, Hugo Haase und Eduard
Bernstein, gegen die Kriegskredite votiert. Mit ihrer Begründung, daß die
Reichsgrenzen nunmehr gesichert seien, blieben die Abgeordneten jedoch auf dem
Boden der Vaterlandsverteidigung. »Man war artig und vornehm, wie sich’s im
Zeitalter des Weltkrieges und des Belagerungszustandes für wohlerzogene
Sozialdemokraten ziemt«, höhnte »Spartacus«, »Burgfrieden immerhin! Mit Blitz
und Donner hätte die Erklärung dreinfahren sollen – sie trug den gedämpften
Ton, den gemäßigten Geist ›besonnener‹ Staatsmännerei.«
Durch ihre Abgrenzung vom Sozialpazifismus näherte sich die nun als
Spartacusgruppe bezeichnete Gruppe Internationale der Linie des im Schweizer
Exil ausharrenden Führers der russischen Bolschewiki Lenin an. Im September
1915 hatten Berta Thalheimer und Ernst Meyer auf der Konferenz sozialistischer
Kriegsgegner im Schweizer Bergdorf Zimmerwald noch mit der pazifistischen
Mehrheit um Ledebour gegen Lenin gestimmt.
Mit seiner im Januar 1916 auf deutsch veröffentlichten Polemik »Der
Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale« hoffte Lenin, bei
den deutschen Genossen mehr Klarheit über das Wesen des Opportunismus und die
Verwandlung der Sozialdemokratie »in eine nationalliberale, eine
konterrevolutionäre Arbeiterpartei« zu vermitteln. Die sozialdemokratische
»Vaterlandsverteidigung« (LW 22, S. 113f.) habe materielle Ursache in einer
Arbeiterbürokratie und -aristokratie, denen Brocken der großen Profite bei der
Aufteilung und Ausbeutung der Welt zufielen. Gemeinsame Klassengrundlage von
Sozialchauvinismus und Opportunismus seien »das Bündnis einer kleinen
bevorrechteten Arbeiterschicht mit ›ihrer‹ nationalen Bourgeoisie gegen die Masse
der Arbeiterklasse, das Bündnis der Lakaien der Bourgeoisie mit ihr gegen die
von ihr ausgebeutete Klasse« und ihr gemeinsamer politischer Inhalt
»Zusammenhalt der Klassen, Verzicht auf die revolutionäre Aktion,
rücksichtslose Anerkennung der bürgerlichen Legalität, Mißtrauen dem
Proletariat, Vertrauen der Bourgeoisie gegenüber.« (ebd., S. 111)
Nach der Reichskonferenz der Gruppe Internationale hatte sich der
bedeutendste Teil der deutschen Linken zwar ein leitendes Zentrum und mit den
Spartakusbriefen ein illegales Informationsorgan geschaffen. Doch von der
Illusion befangen, die Sozialdemokratische Partei in eine marxistische
Kampforganisation zurückverwandeln zu können, unterschätzten sie die
Notwendigkeit einer eigenständigen Parteiorganisation und verblieben vorerst
als eine lose Vereinigung innerhalb der Sozialdemokratie.
Demgegenüber betonte Lenin die Notwendigkeit eines organisatorischen Bruchs
mit den Opportunisten und die Bildung illegaler Organisationen »zur
Unterstützung der revolutionären Bewegung der Massen. Nur ein solcher ›Krieg
dem Krieg‹ ist sozialdemokratische Arbeit, keine Phrase. Und diese Arbeit wird
die Menschheit, wie groß auch die Schwierigkeiten, zeitweiligen Niederlagen,
Irrtümer, Abirrungen, Unterbrechungen sein mögen, zur siegreichen
proletarischen Revolution führen.« (ebd., S. 119)
Der Weltfrieden kann nicht gesichert werden durch utopische oder im Grunde reaktionäre Pläne wie internationale Schiedsgerichte kapitalistischer Diplomaten, diplomatische Abmachungen über »Abrüstung«, »Freiheit der Meere«, Abschaffung des Seebeuterechts, »europäische Staatenbünde«, »mitteleuropäische Zollvereine«, nationale Pufferstaaten und dergl. Imperialismus, Militarismus und Kriege sind nicht zu beseitigen oder einzudämmen, solange die kapitalistischen Klassen unbestritten ihre Klassenherrschaft ausüben. Das einzige Mittel, ihnen erfolgreich Widerstand zu leisten, und die einzige Sicherung des Weltfriedens ist die politische Aktionsfähigkeit und der revolutionäre Wille des internationalen Proletariats, seine Macht in die Waagschale zu werfen.
...
In der Internationale liegt der Schwerpunkt der Klassenorganisation des Proletariats. Die Internationale entscheidet im Frieden über die Taktik der nationalen Sektionen in Fragen des Militarismus, der Kolonialpolitik, der Handelspolitik, der Maifeier, ferner über die gesamte im Kriege einzuhaltende Taktik.
...
Die nächste Aufgabe des Sozialismus ist die geistige Befreiung des Proletariats
von der Vormundschaft der Bourgeoisie, die sich in dem Einfluß der
nationalistischen Ideologie äußert. Die nationalen Sektionen haben ihre
Agitation in den Parlamenten wie in der Presse dahin zu richten, die
überlieferte Phraseologie des Nationalismus als bürgerliches
Herrschaftsinstrument zu denunzieren. Die einzige Verteidigung aller wirklichen
nationalen Freiheit ist heute der revolutionäre Klassenkampf gegen den
Imperialismus. Das Vaterland der Proletarier, dessen Verteidigung alles andere
untergeordnet werden muß, ist die sozialistische Internationale.
* aus: Spartakusbriefe, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK
der SED, Berlin 1958, S.113-117