Kafkaesker
Alptraum: Ein neues Essaybändchen beschäftigt
sich mit dem Justizskandal um die türkische Soziologin
Pinar Selek
Von Nick
Brauns
Mich hat
seit meiner Kindheit die Frage beschäftigt, wie ein glückliches Leben in
Freiheit und Anstand möglich ist. Um Antworten auf diese Frage zu finden,
um die Gesellschaft und mich selbst zu verstehen und um den Raum der Freiheit
zu erweitern, bin ich Soziologin geworden« – so lautet eine Standortbestimmung
der türkischen Schriftstellerin und Feministin Pinar Selek in dem kürzlich erschienenen Essaybändchen
»Frau im Exil« mit Texten von ihr und über sie.
Im Mittelpunkt
von Seleks Forschungen stehen die Ausgegrenzten:
Straßenkinder, Transsexuelle, Roma und Kurden. Sie begibt sich unter
die Menschen, über die sie schreibt. Sie organisiert mit ihnen gemeinsam
Projekte. So gründete sie das feministische Netzwerk »Amargi«, das mitten im Krieg in den 90er Jahren Türkinnen
und Kurdinnen zusammenbrachte. Sie baute in Istanbul ein Atelier der Straßenkünstler auf und engagierte sich in der Friedensbewegung.
In ihrem 2010 auch auf Deutsch erschienenen Buch »Zum Mann gehätschelt.
Zum Mann gedrillt« fragt sie nach dem Zusammenhang von Militarismus und
Geschlechteridentität.
»Pinar Selek revolutionierte das Verhältnis zwischen Forscherin
und Erforschten und ist als Soziologin nicht neutral, sondern steht
dafür ein, subjektiv und verantwortlich zu sein«, schreibt die armenische
Schriftstellerin Karin Karakasali über ihre
Freundin. Hrant Dink, der
Herausgeber der in Istanbul erscheinenden armenisch-türkischen
Wochenzeitung Agos, hatte die beiden Frauen vor
rund zwölf Jahren miteinander bekannt gemacht. »Es waren seltsame Zeiten«,
blickt Karakasali zurück. »Ich spürte, daß auf der einen Seite mit Agos
und Hrant die armenische Sache und auf der anderen
mit Pinar die kurdische Sache gelöst werden könnte. Ein Impuls war da,
ein starker Katalysator für den Frieden.« Doch
beide, Dink und Selek, wurden
auf unterschiedliche Weise Opfer des »tiefen Staates«, jener ultranationalistischen Kreise, die jedes Rühren an
den Tabus der türkischen Staatsräson mit allen Mitteln zu unterdrücken
suchen. Hrant Dink wurde
2007 von einem jugendlichen Faschisten ermordet. Die hinter der Tat steckende
Verschwörung staatlicher Kreise wird bis heute von Gerichten und Polizeibehörden
vertuscht.
Und Pinar Selek durchlebt seit 15 Jahren den kafkaesken Alptraum
einer grotesken Justizverschwörung, mit der die
Pazifistin zur Mörderin gestempelt und lebenslänglich inhaftiert
werden soll. »Dann wurde ich plötzlich aus meinem Reich gerissen«, schildert
Selek die Zeit nach ihrer ersten Verhaftung. »Der
Staat, d.h. die Männer, die mein Land regieren, erklärten mich zur Hexe.« 1998 wurde die damals 27jährige Wissenschaftlerin
unter dem Vorwurf verhaftet, Mitglied der kurdischen Arbeiterpartei
PKK zu sein. Zuvor hatte sie im Rahmen einer soziologischen Studie zur
kurdischen Frage auch PKK-Anhänger befragt. Trotz Folter während
ihrer zweieinhalbjährigen Untersuchungshaft gab sie die Namen ihrer Interviewpartner nicht preis.
Dann wurde
sie beschuldigt, für einen Bombenanschlag auf dem ägyptischen Basar in
Istanbul verantwortlich zu sein. Bei der Explosion waren am 9. Juli 1998
sieben Menschen getötet und weit über 100 verletzt worden. Dem polizeilichen
Abschlußbericht und mehreren, später erstellten
Gutachten zufolge hatte es überhaupt keine Bombe gegeben. Eine defekte
Gasflasche soll die Detonation ausgelöst haben. Die Anklage gegen Selek beruhte einzig auf der unter Folter erpreßten und später zurückgezogenen Aussage
eines Mitverhafteten. Dreimal sprach das Gericht
Selek vom Vorwurf des Bombenanschlags frei. Doch
dreimal kassierte das Revisionsgericht das Urteil. Am 24. Januar
2013 wurde Selek in Abwesenheit zu lebenslanger
Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt – für einen Anschlag, den
es nie gegeben hat.
»Die härtesten
Erfahrungen mit dem Exil machen Frauen«, schreibt Selek.
Für sie selbst biete das Leben als Emigrantin jedoch auch Chancen – und sie
habe die »internationale Solidarität der Feministinnen« erfahren,
die sich in ähnlicher Lage befänden. 2009 hat Pinar Selek
die Türkei verlassen. Nach längerem Aufenthalt in Deutschland arbeitet
sie derzeit im französischen Strasbourg an ihrer Dissertation. Doch
seit August besteht ein Interpolhaftbefehl
gegen Selek. Die Hexenjagd auf eine Unbequeme
geht weiter.
Pinar Selek/Karin
Karakasali: Frau im Exil. Orlanda Verlag, Berlin
2013, 68 Seiten, 8 Euro
junge Welt
20.12.13