Junge Welt 28.04.2012 / Geschichte / Seite 15

Kollektiver Organisator

Vor 100 Jahren wurde die Prawda als Tageszeitung der Bolschewiki gegründet

Von Nick Brauns

 

Die Prawda von 1912 – das war die Grundsteinlegung für den Sieg des Bolschewismus im Jahre 1917«. So würdigte der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Josef Stalin, am 5. Mai 1922 die Rolle der zehn Jahre zuvor erstmals erschienenen Tageszeitung, deren Name auf Deutsch »Die Wahrheit« bedeutet. Die Prawda wurde vor dem Hintergrund eines landesweiten Aufschwungs der Arbeiterbewegung nach einem Massaker der Armee an streikenden Bergarbeitern in Sibirien gegründet. Mit ihrer Hilfe sollte das Proletariat für das auf einen revolutionären Sturz des Zarismus zielende Programm der Bolschewiki gewonnen werden. Bei der Schaffung der Prawda als legaler Massenzeitung orientierten sich die Bolschewiki an Ideen, die Lenin bereits elf Jahre zuvor in seiner Broschüre »Womit beginnen entwickelt hatte. »Die Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator«, hatte Lenin geschrieben und die revolutionäre Zeitung mit einem Baugerüst verglichen, um das sich ein Netzwerk von Unterstützern zu ihrer Produktion, Finanzierung und Verteilung bilden muß.

Lebendige Polemik


Den Leitartikel der ersten Ausgabe hatte ihr kurzzeitiger Redakteur Josef Stalin unter seinem Pseudonym Koba verfaßt. Er bediente sich einer versöhnlerischen Sprache, um die über den endgültigen organisatorischen Bruch der Bolschewiki mit den gemäßigten Menschewiki zu Jahresbeginn irritierten Arbeiter nicht weiter zu verstören. Koba versicherte den Lesern, daß die Prawda nicht die Absicht habe, die Meinungsverschiedenheiten zwischen den sozialistischen Richtungen aufzublähen. »In dem Maß, in dem wir gegen unsere Feinde unerbittlich sein müssen, müssen wir untereinander Zugeständnisse machen«, trat Stalin für »Einigkeit um jeden Preis innerhalb der Arbeiterbewegung ein. In der Prawda-Redaktion gab es die Tendenz, Parteifragen lieber nur in der Wochenzeitung Swesda (Stern) zu behandeln, die sich vornehmlich an Funktionäre und der Partei nahestehende Arbeiter richtete. Diese Haltung und die Tatsache, daß die Redaktion Polemik gegen die menschewistischen »Liquidatoren« aus seinen Artikeln strich, weckte Lenins Zorn. »Die Prawda geht zugrunde, wenn sie nur ein ›populäres‹, ›positives‹ Organ bleibt, das steht außer Zweifel«, forderte der russische Revolutionär eine offene Auseinandersetzung mit anderen sozialistischen Strömungen.

Es müsse für die Massen deutlich werden, für wen die Zeitung eintritt. »Ein sozialistisches Organ muß polemisieren: Unsere Zeit ist eine Zeit schlimmster Verworrenheit, und ohne Polemik geht’s nicht. Die Frage ist nur, ob man die Polemik lebendig führt, in die Offensive geht, selbständig die Fragen aufwirft, oder ob man sich nur verteidigt, ob man trocken und langweilig ist Nach drei Monaten hatte sich Lenin mit seinem Kurs durchgesetzt. Er zog von Paris ins damals österreichische Krakau, wo er nur eine Tagesreise von St. Petersburg entfernt einen direkteren Anteil an der Führung der Bewegung nehmen konnte. Täglich schickte Lenin nun Artikel, Vorschläge oder Kritiken an die Prawda. Deren Anspruch war es, eine Arbeiterzeitung und nicht lediglich eine von Intellektuellen verfaßte Zeitung für Werktätige zu sein. »Wir möchten, daß sich die Arbeiter nicht auf die Sympathie beschränken, sondern an der Leitung unserer Zeitung aktiv mitarbeiten. Mögen die Arbeiter nicht sagen, Schriftstellerei sei für sie eine ›ungewohnte‹ Arbeit«, wurde bereits in der ersten Nummer um Arbeiterkorrespondenten geworben. »Man muß nur mutig ans Werk gehen: Ein paar Mal wird man stolpern, und dann lernt man schreiben Innerhalb eines Jahres erhielt die Prawda 11000 Zuschriften. Die Hälfte der Zeitung werde von arbeitenden Männern und Frauen, Soldaten, Matrosen, Köchen, Droschkenfahrern und Verkäufern geschrieben, berichtete der Bolschewik Gregori Sinowjew.

»Sklavensprache«


Das Pressegesetz verlangte, daß die ersten drei Exemplare jeder Ausgabe dem staatlichen Zensor vorgelegt wurden. Um ein Erscheinungsverbot zu umgehen, bediente sich die Zeitung einer »Sklavensprache« (Lenin). Bolschewiki wurden als »konsequente Demokraten« umschrieben und die zentralen Forderungen ihres Programms – demokratische Republik, Beschlagnahmung des Großgrundbesitzes und Achtstundentag – als »die drei Pfeiler« bezeichnet. Von 645 vor dem Krieg veröffentlichten Ausgaben wurde dennoch in 155 Fällen die Beschlagnahme angeordnet, 36 Ausgaben wurden mit Geldstrafen belegt. Allein im Jahr 1912 durchsuchte die Polizei 40 Mal die Druckerei. Doch in der Regel war der Großteil der Zeitungen schon rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden. Der Versand an rund 6000 Abonnenten lief über täglich wechselnde Postämter. An den Empfängerpostämtern warteten wiederum Vertrauensleute der Bolschewiki unter den Postboten, um die weitere Verteilung zu übernehmen. Die Prawda verfügte über Dutzende oft sogar analphabetische »Sitzredakteure« – also nominell Verantwortliche, die Strafen im Gefängnis absitzen mußten, während sich die wirklichen Redakteure wie der eigentliche Herausgeber der Zeitung, Wjatscheslaw Molotow, im Hintergrund hielten. Acht Mal wurde die Prawda von den Behörden geschlossen. Doch nach jedem Verbot erschien sie unter einem neuen Namen wie Rabotschaja Prawda (Arbeiter-Wahrheit) oder Putj Prawdy (Weg der Wahrheit). »Die Prawda war von einem ganzen Ring von Provokateuren umgeben«, erinnert sich Lenins Ehefrau Nadeshda Krupskaja. So bestand ein 1913 als Redaktionssekretär tätiger zaristischer Agent namens Miron Tschernomasow auf den Abdruck provokanter Artikel, die so häufig zur Schließung der Zeitung führten, daß deren Auflage vorübergehend auf 18000 Exemplare absank. Nachdem Tschernomasow 1914 durch den erfahrenen Bolschewiken Lew Kamenew abgelöst wurde, stieg die Tagesauflage wieder auf 40000 an – während die menschewistische Tageszeitung Luch bei rund 16000 Exemplaren dahindümpelte.

Lenin hatte gefordert, daß jeder Arbeiter am Lohntag eine »Kopeke für die Arbeiterzeitung« spendete. Zu ihrem zweijährigen Bestehen vermeldete die Prawda die stolze Zahl von 5674 Arbeitergruppen, die insgesamt 18584 Rubel zum Erhalt der bolschewistischen Presse gesammelt hatten, was 87 Prozent ihres Spendenaufkommens ausmachte. Demgegenüber verfügte die menschewistische Presse nach eigenen Angaben lediglich über 1421 Arbeitergruppen und bezog die Hälfte ihrer Mittel von Nichtarbeitern. »Also 4/5 der Arbeiter haben die Beschlüsse der Prawdaisten als die ihren anerkannt, haben den Prawdaismus gebilligt, haben sich in der Tat um den Prawdaismus vereinigt«, jubelte Lenin. »Das ist die Einheit der Arbeiter und nicht der Intellektuellengrüppchen, Einheit in der Tat und nicht in Worten, Einheit als Ergebnis von 2 ½ Jahren Arbeiterbewegung ganz Rußlands und nicht Einheit als Versprechen Als »kollektiver Organisator« glich die Prawda so das Fehlen einer legalen Arbeiterpartei in Rußland aus.

Wenige Tage vor Kriegsbeginn im Juli 1914 mußte die Prawda das Erscheinen einstellen. Die Polizei verwüstete das Redaktionsbüro und verhaftete ihre Mitarbeiter. Doch bereits fünf Tage nach dem Sturz des Zaren in der Februarrevolution 1917 kam die Prawda wieder heraus. In der Sowjetunion wurde der 5. Mai als Tag des erstmaligen Erscheinens der nun als Organ der KPdSU dienenden Tageszeitung als »Tag der Arbeiterpresse« begangen.

 

Quellentext: »Eine Tribüne der Arbeiter«

Wenn die Leser der Prawda die Berichte über die Arbeitersammlungen in Verbindung mit den Briefen von Arbeitern und Angestellten aus allen Ecken und Enden Rußlands durchsehen, dann erhalten sie, die auf Grund der schweren äußeren Lebensbedingungen in Rußland größtenteils voneinander getrennt und isoliert sind, eine gewisse Vorstellung davon, wie die Proletarier dieses oder jenes Berufes, dieser oder jener Gegend kämpfen, wie sie darangehen, die Interessen der Arbeiterdemokratie zu verteidigen. Die Chronik des Arbeiterlebens in der Prawda beginnt sich erst zu entwickeln und festen Fuß zu fassen. von nun an wird die Arbeiterzeitung zweifellos neben Mitteilungen über Mißstände in den Fabriken, über das Erwachen einer neuen proletarischen Schicht, über Sammlungen für diesen oder jenen Zweig der Arbeitersache auch Mitteilungen über die Ansichten und Stimmungen der Arbeiter, über die Wahlkampagne, über die Wahl von Arbeiterbevollmächtigten, über das, was Arbeiter lesen, was sie besonders interessiert usw., erhalten. Die Arbeiterzeitung ist eine Tribüne der Arbeiter. Vor ganz Rußland muß hier Frage für Frage des Arbeiterlebens im allgemeinen und der Arbeiterdemokratie im besonderen aufgeworfen werden.

(Lenin über das Verhältnis der Arbeiter zur Prawda in: LW 18, S. 291)