junge Welt 08.04.2013 / Politisches Buch / Seite 15
Zum
diesjährigen Newroz-Fest am 21. März hat der
Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan die Guerilla
zum Verlassen der Türkei aufgerufen. Es sei an der Zeit, die Waffen schweigen
zu lassen, um der Politik den Vorrang zu geben, erklärte der seit 14 Jahren auf
der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer Gefangene.
Konkrete Schritte zur Lösung der kurdischen Frage fehlen in dem Aufruf. Doch
schon 2009 hatte Öcalan vor dem Hintergrund einer damals von der Regierung
verkündeten, aber in der Praxis folgenlosen »kurdischen Öffnung« eine »Roadmap für Verhandlungen« vorgelegt. Dieser unter
Isolationshaftbedingungen in Schulheften verfaßte und
vom türkischen Staat eineinhalb Jahre geheimgehaltene
Text behält seine Bedeutung auch für die laufenden Unterredungen. Das betont
die Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in
Kurdistan«, die ihn nun in deutscher Übersetzung im Pahl-Rugenstein-Verlag
veröffentlichte.
Während der
türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den
Eindruck erweckt, die fast ein Jahrhundert alte kurdische Frage noch in diesem
Sommer durch Entwaffnung der PKK lösen zu können, denkt Öcalan in großen
historischen und geopolitischen Zusammenhängen. Es lassen sich drei miteinander
verbundene Projekte aus seinen Aufzeichnungen herauslesen: Erstens die
Wiederherstellung des frührepublikanischen Konsenses durch eine radikale
Demokratisierung der Türkei. Zweitens die Erneuerung der jahrhundertelang –
unter dem Dach des Islam – bestehenden Allianz Anatoliens und Mesopotamiens in
Form einer »demokratischen Türkei und eines freien Kurdistan«. Dies werde den
Weg freimachen »für eine demokratischere, egalitärere und freiere Entwicklung
der Völker des Mittleren Ostens«. Drittens die Schaffung einer »demokratischen
Gesellschaft aus freien und gleichen Individuen« jenseits der »kapitalistischen
Moderne«. Hier bemüht Öcalan Elemente anarchistischer Staatskritik, während die
für Sozialisten entscheidende Frage nach der Ökonomie vernachlässigt wird.
Es sei wichtig zu verstehen, »daß der Kampf der PKK
nicht der Republik gilt, sondern der gegen sie gerichteten
Demokratiefeindlichkeit«. Die Republik sei von Mustafa Kemal im Befreiungskrieg
auf dem Boden einer »soliden Allianz demokratischer Elemente« der
türkisch-nationalistischen Repräsentanten mit kurdischen, sozialistischen und
islamischen Kräften geschaffen worden. Doch auf Druck des britischen
Imperialismus erfolgte durch die dominanten ehemaligen Kader des jungtürkischen
»Komitees für Einheit und Fortschritt« ab 1922 der Ausschluß
dieser Verbündeten aus dem republikanischen Konsens – bis hin zur Einleitung
eines »kurdischen kulturellen Genozids«. Die zuerst als Geheimloge innerhalb
des Staates organisierten und 1908 durch eine Militärrevolte an die Macht
gelangten Jungtürken prägten die Republik nicht nur ideologisch mit Glauben an
die künstliche Schaffung einer türkischen Einheitsnation. »Putschismus
und Geheimbündelei« wurden zu den wichtigsten Methoden innerhalb des
Staatsapparates. Zu Schutzmächten dieses »tiefen Staates« wurden Großbritannien
und nach dem Zweiten Weltkrieg die USA, die so die Türkei als Vasallenstaat kontrollierten. Daß
der für eine eigenständige Entwicklung der Türkei notwendige
politisch-ideologisch Bruch mit der westlichen Hegemonie ausgerechnet unter der
Herrschaft der neoliberalen, US-gestützten Regierungspartei AKP vollzogen
werden kann, erscheint fraglich.
Unabhängigkeit oder eine föderale Lösung, wie sie die Kurden
im Nordirak mit Hilfe der US-Intervention erreicht haben, lehnt Öcalan als
»Klein-Kurdistan-Projekt« im Rahmen imperialistischer
Teile-und-Herrsche-Politik ab. Dagegen setzt er auf die Vision einer Türkei als
gemeinsamer Heimat aller auf ihrem Territorium lebenden Gruppierungen durch
eine Neudefinition von Staatsbürgerschaft ohne ethnische oder religiöse
Zuschreibung. Mit »konsequenter Demokratisierung« will Öcalan den »Engpaß des Nationalstaates« durchbrechen. Dies schließt für
ihn neben individuellen Rechten die Anerkennung der Rechte von Kollektiven ein
– einschließlich des Rechts auf »Selbstverteidigung von ökonomischen,
ökologischen und demokratischen Gesellschaften sowie freier Individuen gegen
die monopolistische Repression und Ausbeutung durch die Elemente der
kapitalistischen Moderne, also den Nationalstaat, den Kapitalismus und den
Industrialismus.« Obwohl dieser Punkt nicht weiter
konkretisiert wird, lesen Kommentatoren der türkischen
Presse darin eine Beibehaltung der Guerilla heraus.
Konkrete Schritte eines Friedensplans werden erst auf den letzten drei Seiten
der Roadmap benannt. Eine Waffenruhe der PKK ist nach
diesem Drehbuch der erste vertrauensbildende Schritt, auf den die Einrichtung
einer auf Initiative von Regierung und Parlament gebildeten Wahrheits- und
Versöhnungskommission erfolgen soll, um die rechtlichen Grundlagen für eine
Amnestie, die Freilassung der politischen Gefangenen sowie für einen sicheren
Rückzug der Guerilla vom türkischen Territorium zu legen. Bei
verfassungsmäßigen Garantien für eine Demokratisierung der Türkei könnten
PKK-Mitglieder zurückkehren und legal politisch aktiv werden. Bislang
verweigert Ministerpräsident Erdogan schon die Einbindung des Parlaments in den
Friedensprozeß, der damit an einem seidenen Faden
hängt.