Junge Welt 06.11.2013
/ Thema / Seite 10
Die Saat geht auf
Reportage. Zwischen Revolution und Krieg – Eindrücke
einer Reise durch die kurdischen Gebiete Syriens
Von Nick Brauns
Zwischen dem 5. und dem 20. Oktober reiste eine
Delegation der Kampagne »Tatort Kurdistan« aus Deutschland in die kurdischen
Gebiete Syriens und des Irak. Ihr gehörten Rechtsanwältin Brigitte Kiechle
(Karlsruhe), die Journalisten Nick Brauns (Berlin) und Gül Güzel (Stuttgart),
der Historiker Michel Knapp (Berlin) und der Menschenrechtsaktivist Fuad Zindani (Hannover) an.
»Willkommen in Rojava«, begrüßt die junge kurdische
Milizionärin mit der umgehängten Kalaschnikow am Ufer des Tigris die Reisenden.
Wir haben gerade mit dem Boot den Fluß überquert, der
hier bei Semalka die Grenze zwischen dem Irak und
Syrien bildet. Rojava bedeutet auf Kurdisch »Westen«.
Denn die kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien sind auf der imaginären Karte
Kurdistans der westliche Teil. Sie reichen vom Irak entlang der türkischen
Grenze bis zur Mittelmeerküste.1
Nach Ausbruch des bewaffneten Konflikts in Syrien gelang es den Kurden, ihre
auf die drei Enklaven Afrin, Kobani (arabischer Name Ain Al-Arab) sowie die Region
Dschasira in der Provinz Al-Hasaka verteilten
Hauptsiedlungsgebiete weitgehend aus den Kämpfen zwischen der Baath-Regierung
von Präsident Baschar Al-Assad und der vom Westen,
der Türkei und den Golfmonarchien unterstützten Opposition herauszuhalten. »Da
weder das Regime noch die Opposition bereit waren, unsere Rechte anzuerkennen,
haben wir uns zu Beginn des Aufstandes in Syrien für einen dritten Weg der
demokratischen Selbstverwaltung entscheiden«, erklärt Salih Muslim, der
Vorsitzende der »Partei der Demokratischen Einheit« (PYD). Diese 2003
gegründete sozialistische Partei, deren Fahnen ein von grünen und gelben Ähren
umgebener roter Stern schmückt, hatte bereits nach der Niederschlagung einer
kurdischen Erhebung 2004 mit dem Aufbau von bewaffneten
Selbstverteidigungsgruppen im Untergrund begonnen. Während die übrigen
kurdischen Parteien nach Ausbruch des syrischen Aufstandes im Frühjahr 2011
kaum über handlungsfähige Strukturen vor Ort verfügten, bekam die PYD durch
intensive Basisarbeit und den Aufbau von Komitees zur Versorgung der
Bevölkerung schnell großen Zulauf. Auch Hunderte syrische Kurden, die jahrelang
in den Reihen der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, gegen die türkische Armee
gekämpft hatten, kehrten nun in ihre Heimat zurück, um ihre Erfahrungen für den
Aufbau einer als Volksverteidigungskräfte (YPG) bezeichneten Miliz
einzubringen.
Aufbau von Volksräten
Als die
Kämpfe zwischen den regulären Streitkräften Syriens und der Freien Syrischen
Armee (FSA) im Sommer 2012 auf Rojava überzugreifen
drohten, übernahmen ab dem 19. Juli von der PYD initiierte Volksräte die
Kontrolle über die Städte der Region. »Unsere Strategie setzt auf eine
friedliche Wandlung. Wenn wir bewaffnet gekämpft hätten, wären unsere Städte
vom Regime zerstört worden«, berichtet der PYD-Vorsitzende von Amude, Hüseyn Koca. Regierungsgebäude und Polizeistationen
wurden von der Bevölkerung umstellt. »Wir ließen die Baathisten
ihre Waffen abgeben und schickten sie dann nach Hause.«
In fast allen Städten, aus denen die Armee zu diesem Zeitpunkt weitgehend in umkämpftere Landesteile abgezogen worden waren, verlief die
Machtübernahme unblutig. »Hätte es Tote gegeben, wäre es zu Feindschaft
zwischen Kurden und Arabern gekommen«, ist Koca überzeugt. Die ausübende und
gesetzgebende Gewalt liegt seitdem bei den Räten. Sie existieren in den
Kommunen als Stadtviertelräte bis hin zum Volksrat
von Westkurdistan. Es gibt einen vorgeschriebenen Anteil von 40 Prozent Frauen
in diesen Gremien sowie eine quotierte Doppelspitze. Berufsgruppen, Frauen- und
Jugendverbände sowie ethnische und religiöse Minderheiten entsenden eigene
Vertreter. »Wir haben unsere Revolution begonnen, um den Lauf der syrischen
Revolution zu ändern«, meint Baschir, ein junger Agrarwissenschaftler aus dem
Wirtschaftskomitee des Volksrates. »Es geht uns nicht um einen bloßen
Regimewechsel, sondern um die Schaffung eines anderen gesellschaftlichen
Systems.«
Dessen ideologische Grundlagen sind von Abdullah Öcalan inspiriert. Das
Konterfei des schnauzbärtigen PKK-Gründers ist allgegenwärtig. Sein Bild findet
sich auf Denkmalsockeln, die einstmals Statuen des verstorbenen
Staatspräsidenten Hafis Al-Assad trugen, ebenso wie in jeder Polizeiwache und
in vielen Privatwohnungen – dort oft neben religiösen Symbolen. Öcalan lebte
nach dem türkischen Militärputsch 1980 fast 20 Jahre lang im syrischen Exil.
Während Assad kurdische Regungen im eigenen Land, die sich gegen die
Arabisierungspolitik der Baath-Partei richteten, mit harter Hand unterdrücken
ließ, diente ihm die PKK als Faustpfand gegenüber der Türkei. Erst als Ankara
1998 offen mit Krieg drohte, ließ Assad seinen Schützling fallen und die
PKK-Camps in Syrien schließen. »Wir haben keine organisatorische Bindung an
Öcalan«, erklärt der PYD-Vorsitzende Muslim. »Aber wir setzen seine Philosophie
von Selbstverwaltung und Geschwisterlichkeit um.«
Öcalan, der nach seiner Flucht aus Syrien vom türkischen Geheimdienst
gekidnappt wurde, wird bis heute auf der Gefängnisinsel Imrali
gefangen gehalten. Doch die Saat, die er in Rojava
gelegt hatte, geht dort jetzt auf.
»Wir leben seit Tausenden Jahren mit unseren kurdischen und arabischen Brüdern
zusammen und wollen uns mit voller Überzeugung an der demokratischen Selbstverwaltung
beteiligen«, erklärt der Vorsitzende der Assyrischen Einheitspartei, Ishow Goriye seine Zustimmung zu
diesem Projekt. Vor Beginn des Bürgerkrieges lebten in
Syrien eine Million Angehörige dieser christlichen Volksgruppe, die ihre
Gottesdienste in der biblischen Sprache Aramäisch abhält. Jetzt ist ein
Großteil auf der Flucht. Nachdem mehrere Gemeindemitglieder durch Banden
verschleppt wurden, haben die Assyrer in Qamischli
mit dem Aufbau einer von kurdischen Kämpfern ausgebildeten Miliz zum Schutz der
christlichen Viertel begonnen. Während Aramäisch unter der Baath-Herrschaft an
kirchlichen Schulen unterrichtet werden durfte, war der Gebrauch der kurdischen
Sprache an Schulen und am Arbeitsplatz verboten. Nun soll Kurdisch neben dem
Arabischen zur offiziellen Sprache in Rojava werden.
Der Kurdische Sprachverein hat allein in Qamischli 60
Sprachschulen eröffnet. Ab diesem Schuljahr werden bereits drei Wochenstunden
Kurdisch unterrichtet. Nicht nur im Bereich der Unterrichtssprache hat die
kurdische Selbstverwaltung ihre Spuren hinterlassen. »Früher haben uns die
Lehrer oft geschlagen«, berichtet die 15jährige Schülerin Zozan
aus Derik (arabischer Name Al-Malikija). »Die neuen
Lehrer können das nicht mehr. Das sind schließlich unsere Genossen.«
Die ganze Region ist mit einem Netz von Checkpoints überzogen. Auffällig ist
der Respekt, den ältere Autofahrer gerade einmal 18jährigen Milizionären
entgegenbringen. »Das sind unsere Kinder, die uns beschützen«, heißt es zur
Begründung. An manchen Kontrollpunkten bewachen 70jährige Bauern gemeinsam mit
ihren Söhnen die Zufahrt zu ihren Dörfern – die Teekanne in der einen Hand, ein
Gewehr in der anderen. Mehrfach kam es an den Checkpoints zu
Selbstmordanschlägen der islamistischen Al-Nusra-Front.
In westlichen Medien werden die Volksverteidigungskräfte, deren Stärke
YPG-Sprecher Redur Khalil mit 45000 Kämpfern
beziffert, als Kurdenmiliz und bewaffneter Arm der PYD bezeichnet. Doch in den
Reihen der YPG, die dem Hohen Kurdischen Rat als oberster Vertretung dieser
Minderheit in Syrien unterstehen, finden sich neben Kurden auch Araber und
Christen. Erst kürzlich fielen zwei Mitglieder einer sozialdemokratischen
Partei sowie der aus der Türkei stammende Kommunist Serkan Tosun bei Kämpfen
gegen Al-Qaida-Terroristen. Frauen, die zum Teil in eigenen Einheiten
aufgestellt sind, machen rund ein Drittel der Miliz aus. Vorgesetzte werden
gewählt. Die Volksverteidungskräfte erhalten keine
Bezahlung. Ortsansässige Familien übernehmen im Rotationsverfahren ihre
Versorgung mit Lebensmitteln.
Qamischli ist mit über 200000 zu zwei Dritteln
kurdischen Einwohnern die größte Stadt in Rojava.2 Hier lösten Übergriffe
arabisch-nationalistischer Anhänger auf die einer kurdischen Mannschaft während
eines Fußballspiels im März 2004 einen blutig niedergeschlagenen Aufstand mit
Dutzenden Toten aus, der als »kurdisches Erwachen« gilt. In Qamischli
ist als einziger Stadt der Region das Regime – wie die Kurden die
Baath-Regierung nennen – noch präsent. Es sind Bilder von Baschar
Al-Assad und seinem Vater Hafis zu sehen. Die syrische Armee kontrolliert den
Flughafen und unterhält einige Kasernen. Nahe dem Basar stehen Zivilisten vor
einem Kleinlaster mit Maschinengewehr und der syrischen Staatsfahne. Es sind Schabihas, zivile Unterstützer von Präsident Assad. Sollten
die Regimekräfte allerdings jemanden festnehmen, würde das zu massiven
Protesten führen, ist Cwan Ibrahim, der Vorsitzende
der Asayisch (Sicherheit) überzeugt. Das mit
Sandsäcken gesicherte Hauptquartier dieser den Volksräten unterstellten
Polizeimiliz ist in einem ehemaligen Gebäude der Baath-Partei untergebracht,
das die Bevölkerung gewaltlos übernommen hat. »Wir werden dem Regime keinen Anlaß bieten, die Stadt zu bombardieren«, lehnt der
kurdische Polizeichef ein gewaltsames Vorgehen gegen die verbliebenen
Baath-Stützpunkte ab. Doch immer mehr Menschen würden sich bei Problemen an den
auch in Qamischli gebildeten Volksrat
und nicht die Stadtverwaltung der Baath-Partei wenden, berichtet die
Ratsvorsitzende Ramsia Mohammed.
Ein Grund für dieses wachsende Vertrauen in den Rat, der auch Aufgaben bei der
Stromversorgung, dem Straßenbau und der Stadtreinigung übernommen hat, sei
dessen höhere Effizienz. »Schließlich lösen unsere Komitees Probleme in drei
Tagen, für die die Bürokratie manchmal Jahre brauchte.«
Die Räte haben eine eigene Gerichtsbarkeit geschaffen. Doch diese mit
Berufsjuristen besetzten Volksgerichte werden nur in Ausnahmefällen angerufen.
Im Vordergrund stehen außergerichtliche Schlichtungen. 600 Streitfälle von
Familien wurden so von der »Kommission für soziale Probleme« des Volksrates von
Qamischli gelöst.
Bedrohte Selbstverwaltung
Im Oktober
hat die türkische Armee mit dem Bau einer meterhohen Grenzmauer begonnen, durch
die Qamischli von seiner Schwesterstadt Nusaybin auf türkischer Seite abgeschnitten wird. Tausende
protestieren seitdem in beiden Kommunen gegen diese »Mauer der Schande«.Viele Familien haben Angehörige auf beiden Seiten
dieser in Folge des Sykes-Picot-Abkommens zwischen Großbritannien und
Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg willkürlich gezogenen Grenze. Der Mauerbau
ist der sichtbarste Ausdruck eines Embargos, das nicht nur von der Türkei und
Kräften der syrischen Opposition gegen Rojava
verhängt wurde, sondern auch von der kurdischen Regionalregierung im
nordirakischen Erbil unter Präsident Massud Barsani.
Seit Monaten werden von der Barsani-Regierung Transformatoren sowie
medizinische Güter an der Grenze zurückgehalten. Hilfsorganisationen aus Europa
hatten 15 Krankenwagen gespendet. Doch nur neun kamen in Rojava
an. Aus einigen Fahrzeugen waren die notärztlichen Apparaturen geraubt worden. Statt dessen hingen Barsani-Bilder in den Wagen, berichtet Hamber Mohammed Hassan vom Komitee des Hohen Kurdischen
Rates zur Verteilung von Hilfsgütern. Die Säuglingssterblichkeit ist aufgrund
fehlenden Milchpulvers angestiegen. »Welche Schuld hat ein neugeborener
Säugling, der dringend Milch braucht, an den Problemen zwischen der kurdischen
Regionalregierung und der PYD?« fragt deswegen die
Ärztin Schahnas Mohammed Milo von der
Hilfsorganisation Kurdischer Roter Halbmond.
Die durch Ölgeschäfte eng mit der Türkei verbundene Regierung in Erbil wirft
der PYD vor, mit Assad zu kollaborieren und andere Parteien durch die YPG zu
unterdrücken. »Von kurdischer Seite gibt es keine Unterdrückung«, widerspricht
dagegen der alte Sozialdemokrat Saleh Ghedo, den wir
im Mir-Bedirxan-Verein3 von Qamischli getroffen
haben, solchen Anschuldigungen. »Ohne die YPG wäre ganz Rojava
unter Kontrolle von Al-Qaida, und die Islamisten würden uns die Köpfe
abschneiden«, ist der Vorsitzende der CEP-Partei, die einem von Barsani
unterstützten Parteienbündnis angehört, überzeugt.
Die aus dem Embargo resultierende Not und Arbeitslosigkeit war im August
Hauptgrund für eine Fluchtwelle von Zehntausenden Kurden aus Rojava in die kurdische Autonomieregion im Nordirak. »Wir
fordern ein Ende der Blockade, um Handel mit unseren eigenen Produkten treiben
zu können«, macht der für den Grenzübergang Semalka
Verantwortliche des Hohen Kurdischen Rates, Abdülrahman
Hamo, deutlich, daß es nicht nur um humanitäre Hilfe
geht. »Wir vertrauen auf unsere eigene Kraft und halten notfalls wie das
kubanische Volk 50 Jahre Embargo durch.«4
Rojava war vor dem Krieg die Kornkammer Syriens. Doch
infolge des Embargos fehlt es an Maschinen zur Weiterverarbeitung der
Agrarprodukte. Zudem wird oft die Stromzufuhr durch terroristische Banden
gekappt. Um die Grundversorgung mit Brot sicherzustellen, haben die Volksräte
Großbäckereien in den Stadtvierteln eröffnet. Komitees zur Preiskontrolle gehen
mit Strafandrohungen gegen Wucherer vor.
Die Baath-Partei hatte die kurdischen Großgrundbesitzer im Zuge der
Arabisierungspolitik enteignet und das Land arabischen Stämmen zur Bebauung
gegeben. Die Volksräte haben beschlossen, diese Ländereien jetzt als
Kooperativen weiter zu bewirtschaften. Auch die wenigen in Rojava
existierenden Fabriken etwa zur Olivenölproduktion werden in Genossenschaften
umgewandelt.
Zwischen den Fronten
Derzeit
stehen 60 Prozent der Erdölfelder Syriens unter Kontrolle der YPG. »Sie
schützen die Ölfelder, um sie in einem neuen Syrien für alle zu nutzen«,
versichert Ratsvertreter Hamo. Auch handelt es sich bei dem Öl nicht um das
Eigentum einer Partei oder Volksgruppe. Familien von Asayisch-
und YPG-Mitgliedern erhalten jetzt kostenlos Heiz- und Brennstoffe.
Seit Ende Juli sehen sich die Kurden in Syrien einer massiven Offensive
islamistischer Gotteskrieger und mit ihnen verbündeter Einheiten der Freien
Syrischen Armee ausgesetzt. Erklärtes Ziel der zu Al-Qaida gehörenden Al-Nusra-Front und der Organisation »Islamischer Staat im
Irak« und Syrien (ISIS) ist die Errichtung eines islamischen Emirats in
Nordsyrien. »Sie nennen die Kurden Ungläubige. Aber Hauptgrund für ihre
Angriffe sind die Ölquellen in dieser Region«, meint PYD-Vorstandsvertreterin Dschihan Mohammed Ali aus Aleppo. Zahlreiche Ausländer etwa
aus Tschetschenien, Afghanistan, Libyen, der Türkei, dem Irak, aber auch
Europäer und selbst Asiaten kämpfen in den Reihen der »Gotteskrieger«.
»Sie sehen aus wie Teufel«, beschreibt ein YPG-Kommandant die bärtigen
Angreifer, von denen einige in der typischen Kleidung der Salafisten
mit langen Gewändern und Sandalen in die Gefechte ziehen. In den Taschen
getöteter Islamisten wurden vielfach aufputschende Drogen gefunden. Die Dschihadisten erhalten logistische Unterstützung aus der
Türkei. Mit ihrer Hilfe hofft Ankara, die Entstehung einer dauerhaften
kurdischen Autonomieregion in Syrien zu verhindern.
Von Einschüssen übersäte Häuser zeugen von schweren Kämpfen um Serekaniye (arabischer Name Ra’s
Al-’Ayn). Einige Viertel gleichen einer Geisterstadt.
Obwohl hier nur noch einige Dutzend Regierungsbeamte stationiert waren, hatten
aus der Türkei eindringende Einheiten der Freien Syrischen Armee und der Al-Nusra-Front die durch den Grenzübergang zur Türkei
strategisch wichtige Stadt vor einem Jahr besetzt. So wurden Luftangriffe der
regulären syrischen Armee provoziert, die zur Flucht von einem Viertel der
40000 kurdischen und arabischen Einwohner führten.
Immer wieder kam es zu Gefechten zwischen den zum Schutz der kurdischen
Stadtviertel gebildeten YPG-Einheiten und den Besatzern. Mehrfach eröffnete
auch die türkische Armee vom Grenzstreifen aus das Feuer auf kurdische
Stellungen und zerstörte dabei unter anderem ein Schulgebäude. Scharfschützen,
die vom Wasserturm aus die Bevölkerung terrorisierten, hörten auf türkischsprachige
Kommandos, wie abgehörte Funksprüche belegen. Im Februar wurde ein
Waffenstillstand zwischen der YPG und den Dschihadisten
geschlossen, die die arabischen Stadtteile kontrollierten. Doch Mitte Juli
verschleppte die Al-Nusra-Front eine YPG-Kämpferin,
mit der »Begründung«, daß sie im Fastenmonat Ramadan
ein Eis gegessen habe. Damit war die rote Linie überschritten. Die
Volksverteidigungskräfte eroberten in einer Großoffensive ganz Serekaniye und verdrängten die Dschihadisten
in das zwei Kilometer entfernte Tell Halaf.5
Die teilweise mit Blut an Hauswände geschriebenen Parolen erinnern weiter an
die rund acht Monate dauernde Schreckensherrschaft von Al-Qaida. »Grüße von den
Taliban«, heißt es und »Wir kommen zum Schlachten«. Keine leere Drohung, wie
Einwohner berichten. Sie mußten mit ansehen, wie
vermeintlich Ungläubige öffentlich enthauptet und Rauchern Finger abgeschlagen
wurden. Solche Greueltaten hat die Al-Nusra-Front auf Filmen dokumentiert, die in dem von ihr als
Gefängnis weitergenutzten ehemaligen Geheimdienstzentrum der Baath-Partei
gefunden wurden. Hier liegen noch amtliche Vorladungsformulare auf dem Boden –
der Briefkopf zeigt den Schriftzug von Al-Qaida. Noch immer haben die
Islamisten Geiseln in ihrer Gewalt, für die sie hohe Lösegelder fordern.
Entführte Frauen werden zu Ehen auf Zeit gezwungen – eine religiös
»legitimierte« Form der Vergewaltigung.
Hoffnung auf Frieden
»Die Nusra-Front
hat meinen Sohn verschleppt, weil ich mit den Kurden zusammenarbeite. Sie
werden ihn töten, wenn ich mit euch spreche«, ruft ein Araber im langen Gewand,
ehe er schnell weitereilt. Plötzlich sind Schüsse zu hören. Scharfschützen der
Al-Nusra-Front haben einen YPG-Kämpfer an der mit
Gräben und Sandsäcken gesicherten Frontlinie getötet. Hier patrouillieren
türkische Spähpanzer nur einen Steinwurf von der YPG-Stellung entfernt hinter
Stacheldrahtverhauen am Grenzstreifen. Der Grenzübergang ins türkische Ceylanpinar, über den die Dschihadisten
bis zu ihrer Vertreibung mit Lebensmitteln und Munition versorgt wurden, ist
nun von der türkischen Armee zugemauert worden. Angehörige der kurdischen
Volksverteidigungskräfte haben neben dem Wachhäuschen einen Taubenschlag
aufgestellt – als Symbol eines noch in weiter Zukunft liegenden Friedens.
Zwischen Ruinen spielen Kinder. Ein bei einem Luftangriff eingebrochenes
Hausdach dient ihnen als Rutsche. »Es lebe die YPG«, rufen sie, als unser Wagen
mit seinem bewaffneten Begleitschutz an ihnen vorbeifährt.
Das Opferfest, der höchste muslimische Feiertag, ist in Rojava
zugleich ein Tag des Gedenkens an die Toten des Freiheitskampfes. Zu
Sonnenaufgang versammeln sich deren Familien an den Gräbern auf dem neu
angelegten Märtyrerfriedhof von Qamischli. Viele
Autofahrer haben Bilder gefallener YPG-Kämpfer an die Windschutzscheibe
geklebt. Oft zu sehen ist das Foto von Schervan. Der
jüngste Sohn des PYD-Vorsitzenden Salih Muslim war wenige Tage zuvor im Kampf
gegen Al-Qaida gefallen.
In der Ferne steigt über der weiten, von Ölpumpen übersäten Ebene hinter der
Stadt Derik Rauch auf. Schon seit Stunden tobt hier eine Schlacht. Hunderte
»Gotteskrieger« versuchen, trotz eines von den YPG über die Feiertage
verkündeten Waffenstillstandes zu den Ölfeldern vorzudringen. Die zum Teil aus
dem Irak eingedrungenen Angreifer erleiden hohe Verluste. Ein erbeuteter Panzer
wird von den Volksverteidigungskräften im Triumphzug in die Ölstadt
Rumelan gebracht. Doch auch die kurdischen Milizen
haben 15 Gefallene zu beklagen. Tausende Menschen haben sich am nächsten Tag
entlang der Straßen zum Friedhof versammelt und skandieren: »Die Märtyrer sind
unsterblich.« Die Särge der Freiheitskämpfer sind mit
den kurdischen Farben Gelb, Rot und Grün geschmückt. Doch in Rojava wird heute nicht nur die Freiheit des kurdischen
Volkes, sondern auch die Zukunft Syriens verteidigt.
Anmerkungen
1 Die rund drei Millionen Kurden bilden die nach den Arabern größte ethnische
Gruppe in Syrien.
2 Die Zahlen beruhen auf einem staatlichen Zensus von 2004, während kurdische
Quellen von über 400000 Einwohnern ausgehen.
3 Der Schriftsteller und Politiker Celadet Ali Bedirxan (1893–1951) war Vorsitzender der kurdischen
Unabhängigkeitspartei Xoybûn, die 1927 den
Ararat-Aufstand organisierte.
4 Durch die Eroberung eines bislang von Al-Qaida kontrollierten Grenzübergangs
bei Til Kocer in den Irak durch die YPG bietet sich
seit Ende Oktober eine Alternative zu den geschlossenen Passierstellen.
5 Nach monatelangem Stellungskrieg brachten die YPG den durch eine Ausgrabung
weltberühmten prähistorischen Siedlungshügel Tell Halaf
in der Nacht zum 5. November unter ihre Kontrolle.