Junge Welt 06.11.2013 / Thema / Seite 10

Die Saat geht auf

Reportage. Zwischen Revolution und Krieg – Eindrücke einer Reise durch die kurdischen Gebiete Syriens

Von Nick Brauns

 

Zwischen dem 5. und dem 20. Oktober reiste eine Delegation der Kampagne »Tatort Kurdistan« aus Deutschland in die kurdischen Gebiete Syriens und des Irak. Ihr gehörten Rechtsanwältin Brigitte Kiechle (Karlsruhe), die Journalisten Nick Brauns (Berlin) und Gül Güzel (Stuttgart), der Historiker Michel Knapp (Berlin) und der Menschenrechtsaktivist Fuad Zindani (Hannover) an.



»Willkommen in Rojava«, begrüßt die junge kurdische Milizionärin mit der umgehängten Kalaschnikow am Ufer des Tigris die Reisenden. Wir haben gerade mit dem Boot den Fluß überquert, der hier bei Semalka die Grenze zwischen dem Irak und Syrien bildet. Rojava bedeutet auf Kurdisch »Westen«. Denn die kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien sind auf der imaginären Karte Kurdistans der westliche Teil. Sie reichen vom Irak entlang der türkischen Grenze bis zur Mittelmeerküste.1

Nach Ausbruch des bewaffneten Konflikts in Syrien gelang es den Kurden, ihre auf die drei Enklaven Afrin, Kobani (arabischer Name Ain Al-Arab) sowie die Region Dschasira in der Provinz Al-Hasaka verteilten Hauptsiedlungsgebiete weitgehend aus den Kämpfen zwischen der Baath-Regierung von Präsident Baschar Al-Assad und der vom Westen, der Türkei und den Golfmonarchien unterstützten Opposition herauszuhalten. »Da weder das Regime noch die Opposition bereit waren, unsere Rechte anzuerkennen, haben wir uns zu Beginn des Aufstandes in Syrien für einen dritten Weg der demokratischen Selbstverwaltung entscheiden«, erklärt Salih Muslim, der Vorsitzende der »Partei der Demokratischen Einheit« (PYD). Diese 2003 gegründete sozialistische Partei, deren Fahnen ein von grünen und gelben Ähren umgebener roter Stern schmückt, hatte bereits nach der Niederschlagung einer kurdischen Erhebung 2004 mit dem Aufbau von bewaffneten Selbstverteidigungsgruppen im Untergrund begonnen. Während die übrigen kurdischen Parteien nach Ausbruch des syrischen Aufstandes im Frühjahr 2011 kaum über handlungsfähige Strukturen vor Ort verfügten, bekam die PYD durch intensive Basisarbeit und den Aufbau von Komitees zur Versorgung der Bevölkerung schnell großen Zulauf. Auch Hunderte syrische Kurden, die jahrelang in den Reihen der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, gegen die türkische Armee gekämpft hatten, kehrten nun in ihre Heimat zurück, um ihre Erfahrungen für den Aufbau einer als Volksverteidigungskräfte (YPG) bezeichneten Miliz einzubringen.

Aufbau von Volksräten

Als die Kämpfe zwischen den regulären Streitkräften Syriens und der Freien Syrischen Armee (FSA) im Sommer 2012 auf Rojava überzugreifen drohten, übernahmen ab dem 19. Juli von der PYD initiierte Volksräte die Kontrolle über die Städte der Region. »Unsere Strategie setzt auf eine friedliche Wandlung. Wenn wir bewaffnet gekämpft hätten, wären unsere Städte vom Regime zerstört worden«, berichtet der PYD-Vorsitzende von Amude, Hüseyn Koca. Regierungsgebäude und Polizeistationen wurden von der Bevölkerung umstellt. »Wir ließen die Baathisten ihre Waffen abgeben und schickten sie dann nach Hause In fast allen Städten, aus denen die Armee zu diesem Zeitpunkt weitgehend in umkämpftere Landesteile abgezogen worden waren, verlief die Machtübernahme unblutig. »Hätte es Tote gegeben, wäre es zu Feindschaft zwischen Kurden und Arabern gekommen«, ist Koca überzeugt. Die ausübende und gesetzgebende Gewalt liegt seitdem bei den Räten. Sie existieren in den Kommunen als Stadtviertelräte bis hin zum Volksrat von Westkurdistan. Es gibt einen vorgeschriebenen Anteil von 40 Prozent Frauen in diesen Gremien sowie eine quotierte Doppelspitze. Berufsgruppen, Frauen- und Jugendverbände sowie ethnische und religiöse Minderheiten entsenden eigene Vertreter. »Wir haben unsere Revolution begonnen, um den Lauf der syrischen Revolution zu ändern«, meint Baschir, ein junger Agrarwissenschaftler aus dem Wirtschaftskomitee des Volksrates. »Es geht uns nicht um einen bloßen Regimewechsel, sondern um die Schaffung eines anderen gesellschaftlichen Systems

Dessen ideologische Grundlagen sind von Abdullah Öcalan inspiriert. Das Konterfei des schnauzbärtigen PKK-Gründers ist allgegenwärtig. Sein Bild findet sich auf Denkmalsockeln, die einstmals Statuen des verstorbenen Staatspräsidenten Hafis Al-Assad trugen, ebenso wie in jeder Polizeiwache und in vielen Privatwohnungen – dort oft neben religiösen Symbolen. Öcalan lebte nach dem türkischen Militärputsch 1980 fast 20 Jahre lang im syrischen Exil. Während Assad kurdische Regungen im eigenen Land, die sich gegen die Arabisierungspolitik der Baath-Partei richteten, mit harter Hand unterdrücken ließ, diente ihm die PKK als Faustpfand gegenüber der Türkei. Erst als Ankara 1998 offen mit Krieg drohte, ließ Assad seinen Schützling fallen und die PKK-Camps in Syrien schließen. »Wir haben keine organisatorische Bindung an Öcalan«, erklärt der PYD-Vorsitzende Muslim. »Aber wir setzen seine Philosophie von Selbstverwaltung und Geschwisterlichkeit um Öcalan, der nach seiner Flucht aus Syrien vom türkischen Geheimdienst gekidnappt wurde, wird bis heute auf der Gefängnisinsel Imrali gefangen gehalten. Doch die Saat, die er in Rojava gelegt hatte, geht dort jetzt auf.

»Wir leben seit Tausenden Jahren mit unseren kurdischen und arabischen Brüdern zusammen und wollen uns mit voller Überzeugung an der demokratischen Selbstverwaltung beteiligen«, erklärt der Vorsitzende der Assyrischen Einheitspartei, Ishow Goriye seine Zustimmung zu diesem Projekt. Vor Beginn des Bürgerkrieges lebten in Syrien eine Million Angehörige dieser christlichen Volksgruppe, die ihre Gottesdienste in der biblischen Sprache Aramäisch abhält. Jetzt ist ein Großteil auf der Flucht. Nachdem mehrere Gemeindemitglieder durch Banden verschleppt wurden, haben die Assyrer in Qamischli mit dem Aufbau einer von kurdischen Kämpfern ausgebildeten Miliz zum Schutz der christlichen Viertel begonnen. Während Aramäisch unter der Baath-Herrschaft an kirchlichen Schulen unterrichtet werden durfte, war der Gebrauch der kurdischen Sprache an Schulen und am Arbeitsplatz verboten. Nun soll Kurdisch neben dem Arabischen zur offiziellen Sprache in Rojava werden. Der Kurdische Sprachverein hat allein in Qamischli 60 Sprachschulen eröffnet. Ab diesem Schuljahr werden bereits drei Wochenstunden Kurdisch unterrichtet. Nicht nur im Bereich der Unterrichtssprache hat die kurdische Selbstverwaltung ihre Spuren hinterlassen. »Früher haben uns die Lehrer oft geschlagen«, berichtet die 15jährige Schülerin Zozan aus Derik (arabischer Name Al-Malikija). »Die neuen Lehrer können das nicht mehr. Das sind schließlich unsere Genossen

Die ganze Region ist mit einem Netz von Checkpoints überzogen. Auffällig ist der Respekt, den ältere Autofahrer gerade einmal 18jährigen Milizionären entgegenbringen. »Das sind unsere Kinder, die uns beschützen«, heißt es zur Begründung. An manchen Kontrollpunkten bewachen 70jährige Bauern gemeinsam mit ihren Söhnen die Zufahrt zu ihren Dörfern – die Teekanne in der einen Hand, ein Gewehr in der anderen. Mehrfach kam es an den Checkpoints zu Selbstmordanschlägen der islamistischen Al-Nusra-Front. In westlichen Medien werden die Volksverteidigungskräfte, deren Stärke YPG-Sprecher Redur Khalil mit 45000 Kämpfern beziffert, als Kurdenmiliz und bewaffneter Arm der PYD bezeichnet. Doch in den Reihen der YPG, die dem Hohen Kurdischen Rat als oberster Vertretung dieser Minderheit in Syrien unterstehen, finden sich neben Kurden auch Araber und Christen. Erst kürzlich fielen zwei Mitglieder einer sozialdemokratischen Partei sowie der aus der Türkei stammende Kommunist Serkan Tosun bei Kämpfen gegen Al-Qaida-Terroristen. Frauen, die zum Teil in eigenen Einheiten aufgestellt sind, machen rund ein Drittel der Miliz aus. Vorgesetzte werden gewählt. Die Volksverteidungskräfte erhalten keine Bezahlung. Ortsansässige Familien übernehmen im Rotationsverfahren ihre Versorgung mit Lebensmitteln.

Qamischli ist mit über 200000 zu zwei Dritteln kurdischen Einwohnern die größte Stadt in Rojava.2 Hier lösten Übergriffe arabisch-nationalistischer Anhänger auf die einer kurdischen Mannschaft während eines Fußballspiels im März 2004 einen blutig niedergeschlagenen Aufstand mit Dutzenden Toten aus, der als »kurdisches Erwachen« gilt. In Qamischli ist als einziger Stadt der Region das Regime – wie die Kurden die Baath-Regierung nennen – noch präsent. Es sind Bilder von Baschar Al-Assad und seinem Vater Hafis zu sehen. Die syrische Armee kontrolliert den Flughafen und unterhält einige Kasernen. Nahe dem Basar stehen Zivilisten vor einem Kleinlaster mit Maschinengewehr und der syrischen Staatsfahne. Es sind Schabihas, zivile Unterstützer von Präsident Assad. Sollten die Regimekräfte allerdings jemanden festnehmen, würde das zu massiven Protesten führen, ist Cwan Ibrahim, der Vorsitzende der Asayisch (Sicherheit) überzeugt. Das mit Sandsäcken gesicherte Hauptquartier dieser den Volksräten unterstellten Polizeimiliz ist in einem ehemaligen Gebäude der Baath-Partei untergebracht, das die Bevölkerung gewaltlos übernommen hat. »Wir werden dem Regime keinen Anlaß bieten, die Stadt zu bombardieren«, lehnt der kurdische Polizeichef ein gewaltsames Vorgehen gegen die verbliebenen Baath-Stützpunkte ab. Doch immer mehr Menschen würden sich bei Problemen an den auch in Qamischli gebildeten Volksrat und nicht die Stadtverwaltung der Baath-Partei wenden, berichtet die Ratsvorsitzende Ramsia Mohammed.

Ein Grund für dieses wachsende Vertrauen in den Rat, der auch Aufgaben bei der Stromversorgung, dem Straßenbau und der Stadtreinigung übernommen hat, sei dessen höhere Effizienz. »Schließlich lösen unsere Komitees Probleme in drei Tagen, für die die Bürokratie manchmal Jahre brauchte Die Räte haben eine eigene Gerichtsbarkeit geschaffen. Doch diese mit Berufsjuristen besetzten Volksgerichte werden nur in Ausnahmefällen angerufen. Im Vordergrund stehen außergerichtliche Schlichtungen. 600 Streitfälle von Familien wurden so von der »Kommission für soziale Probleme« des Volksrates von Qamischli gelöst.

Bedrohte Selbstverwaltung

Im Oktober hat die türkische Armee mit dem Bau einer meterhohen Grenzmauer begonnen, durch die Qamischli von seiner Schwesterstadt Nusaybin auf türkischer Seite abgeschnitten wird. Tausende protestieren seitdem in beiden Kommunen gegen diese »Mauer der Schande«.Viele Familien haben Angehörige auf beiden Seiten dieser in Folge des Sykes-Picot-Abkommens zwischen Großbritannien und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg willkürlich gezogenen Grenze. Der Mauerbau ist der sichtbarste Ausdruck eines Embargos, das nicht nur von der Türkei und Kräften der syrischen Opposition gegen Rojava verhängt wurde, sondern auch von der kurdischen Regionalregierung im nordirakischen Erbil unter Präsident Massud Barsani.

Seit Monaten werden von der Barsani-Regierung Transformatoren sowie medizinische Güter an der Grenze zurückgehalten. Hilfsorganisationen aus Europa hatten 15 Krankenwagen gespendet. Doch nur neun kamen in Rojava an. Aus einigen Fahrzeugen waren die notärztlichen Apparaturen geraubt worden. Statt dessen hingen Barsani-Bilder in den Wagen, berichtet Hamber Mohammed Hassan vom Komitee des Hohen Kurdischen Rates zur Verteilung von Hilfsgütern. Die Säuglingssterblichkeit ist aufgrund fehlenden Milchpulvers angestiegen. »Welche Schuld hat ein neugeborener Säugling, der dringend Milch braucht, an den Problemen zwischen der kurdischen Regionalregierung und der PYD fragt deswegen die Ärztin Schahnas Mohammed Milo von der Hilfsorganisation Kurdischer Roter Halbmond.

Die durch Ölgeschäfte eng mit der Türkei verbundene Regierung in Erbil wirft der PYD vor, mit Assad zu kollaborieren und andere Parteien durch die YPG zu unterdrücken. »Von kurdischer Seite gibt es keine Unterdrückung«, widerspricht dagegen der alte Sozialdemokrat Saleh Ghedo, den wir im Mir-Bedirxan-Verein3 von Qamischli getroffen haben, solchen Anschuldigungen. »Ohne die YPG wäre ganz Rojava unter Kontrolle von Al-Qaida, und die Islamisten würden uns die Köpfe abschneiden«, ist der Vorsitzende der CEP-Partei, die einem von Barsani unterstützten Parteienbündnis angehört, überzeugt.


Die aus dem Embargo resultierende Not und Arbeitslosigkeit war im August Hauptgrund für eine Fluchtwelle von Zehntausenden Kurden aus Rojava in die kurdische Autonomieregion im Nord­irak. »Wir fordern ein Ende der Blockade, um Handel mit unseren eigenen Produkten treiben zu können«, macht der für den Grenzübergang Semalka Verantwortliche des Hohen Kurdischen Rates, Abdülrahman Hamo, deutlich, daß es nicht nur um humanitäre Hilfe geht. »Wir vertrauen auf unsere eigene Kraft und halten notfalls wie das kubanische Volk 50 Jahre Embargo durch4

Rojava war vor dem Krieg die Kornkammer Syriens. Doch infolge des Embargos fehlt es an Maschinen zur Weiterverarbeitung der Agrarprodukte. Zudem wird oft die Stromzufuhr durch terroristische Banden gekappt. Um die Grundversorgung mit Brot sicherzustellen, haben die Volksräte Großbäckereien in den Stadtvierteln eröffnet. Komitees zur Preiskontrolle gehen mit Strafandrohungen gegen Wucherer vor.

Die Baath-Partei hatte die kurdischen Großgrundbesitzer im Zuge der Arabisierungspolitik enteignet und das Land arabischen Stämmen zur Bebauung gegeben. Die Volksräte haben beschlossen, diese Ländereien jetzt als Kooperativen weiter zu bewirtschaften. Auch die wenigen in Rojava existierenden Fabriken etwa zur Olivenölproduktion werden in Genossenschaften umgewandelt.

Zwischen den Fronten

Derzeit stehen 60 Prozent der Erdölfelder Syriens unter Kontrolle der YPG. »Sie schützen die Ölfelder, um sie in einem neuen Syrien für alle zu nutzen«, versichert Ratsvertreter Hamo. Auch handelt es sich bei dem Öl nicht um das Eigentum einer Partei oder Volksgruppe. Familien von Asayisch- und YPG-Mitgliedern erhalten jetzt kostenlos Heiz- und Brennstoffe.

Seit Ende Juli sehen sich die Kurden in Syrien einer massiven Offensive islamistischer Gotteskrieger und mit ihnen verbündeter Einheiten der Freien Syrischen Armee ausgesetzt. Erklärtes Ziel der zu Al-Qaida gehörenden Al-Nusra-Front und der Organisation »Islamischer Staat im Irak« und Syrien (ISIS) ist die Errichtung eines islamischen Emirats in Nordsyrien. »Sie nennen die Kurden Ungläubige. Aber Hauptgrund für ihre Angriffe sind die Ölquellen in dieser Region«, meint PYD-Vorstandsvertreterin Dschihan Mohammed Ali aus Aleppo. Zahlreiche Ausländer etwa aus Tschetschenien, Afghanistan, Libyen, der Türkei, dem Irak, aber auch Europäer und selbst Asiaten kämpfen in den Reihen der »Gottes­krieger«.

»Sie sehen aus wie Teufel«, beschreibt ein YPG-Kommandant die bärtigen Angreifer, von denen einige in der typischen Kleidung der Salafisten mit langen Gewändern und Sandalen in die Gefechte ziehen. In den Taschen getöteter Islamisten wurden vielfach aufputschende Drogen gefunden. Die Dschihadisten erhalten logistische Unterstützung aus der Türkei. Mit ihrer Hilfe hofft Ankara, die Entstehung einer dauerhaften kurdischen Autonomieregion in Syrien zu verhindern.

Von Einschüssen übersäte Häuser zeugen von schweren Kämpfen um Serekaniye (arabischer Name Ra’s Al-’Ayn). Einige Viertel gleichen einer Geisterstadt. Obwohl hier nur noch einige Dutzend Regierungsbeamte stationiert waren, hatten aus der Türkei eindringende Einheiten der Freien Syrischen Armee und der Al-Nusra-Front die durch den Grenzübergang zur Türkei strategisch wichtige Stadt vor einem Jahr besetzt. So wurden Luftangriffe der regulären syrischen Armee provoziert, die zur Flucht von einem Viertel der 40000 kur­dischen und arabischen Einwohner führten.

Immer wieder kam es zu Gefechten zwischen den zum Schutz der kurdischen Stadtviertel gebildeten YPG-Einheiten und den Besatzern. Mehrfach eröffnete auch die türkische Armee vom Grenzstreifen aus das Feuer auf kurdische Stellungen und zerstörte dabei unter anderem ein Schulgebäude. Scharfschützen, die vom Wasserturm aus die Bevölkerung terrorisierten, hörten auf türkischsprachige Kommandos, wie abgehörte Funksprüche belegen. Im Februar wurde ein Waffenstillstand zwischen der YPG und den Dschihadisten geschlossen, die die arabischen Stadtteile kontrollierten. Doch Mitte Juli verschleppte die Al-Nusra-Front eine YPG-Kämpferin, mit der »Begründung«, daß sie im Fastenmonat Ramadan ein Eis gegessen habe. Damit war die rote Linie überschritten. Die Volksverteidigungskräfte eroberten in einer Großoffensive ganz Serekaniye und verdrängten die Dschihadisten in das zwei Kilometer entfernte Tell Halaf.5

Die teilweise mit Blut an Hauswände geschriebenen Parolen erinnern weiter an die rund acht Monate dauernde Schreckensherrschaft von Al-Qaida. »Grüße von den Taliban«, heißt es und »Wir kommen zum Schlachten«. Keine leere Drohung, wie Einwohner berichten. Sie mußten mit ansehen, wie vermeintlich Ungläubige öffentlich enthauptet und Rauchern Finger abgeschlagen wurden. Solche Greueltaten hat die Al-Nusra-Front auf Filmen dokumentiert, die in dem von ihr als Gefängnis weitergenutzten ehemaligen Geheimdienstzentrum der Baath-Partei gefunden wurden. Hier liegen noch amtliche Vorladungsformulare auf dem Boden – der Briefkopf zeigt den Schriftzug von Al-Qaida. Noch immer haben die Islamisten Geiseln in ihrer Gewalt, für die sie hohe Lösegelder fordern. Entführte Frauen werden zu Ehen auf Zeit gezwungen – eine religiös »legitimierte« Form der Vergewaltigung.

Hoffnung auf Frieden

»Die Nusra-Front hat meinen Sohn verschleppt, weil ich mit den Kurden zusammenarbeite. Sie werden ihn töten, wenn ich mit euch spreche«, ruft ein Araber im langen Gewand, ehe er schnell weitereilt. Plötzlich sind Schüsse zu hören. Scharfschützen der Al-Nusra-Front haben einen YPG-Kämpfer an der mit Gräben und Sandsäcken gesicherten Frontlinie getötet. Hier patrouillieren türkische Spähpanzer nur einen Steinwurf von der YPG-Stellung entfernt hinter Stacheldrahtverhauen am Grenzstreifen. Der Grenzübergang ins türkische Ceylanpinar, über den die Dschihadisten bis zu ihrer Vertreibung mit Lebensmitteln und Munition versorgt wurden, ist nun von der türkischen Armee zugemauert worden. Angehörige der kurdischen Volksverteidigungskräfte haben neben dem Wachhäuschen einen Taubenschlag aufgestellt – als Symbol eines noch in weiter Zukunft liegenden Friedens. Zwischen Ruinen spielen Kinder. Ein bei einem Luftangriff eingebrochenes Hausdach dient ihnen als Rutsche. »Es lebe die YPG«, rufen sie, als unser Wagen mit seinem bewaffneten Begleitschutz an ihnen vorbeifährt.

Das Opferfest, der höchste muslimische Feiertag, ist in Rojava zugleich ein Tag des Gedenkens an die Toten des Freiheitskampfes. Zu Sonnenaufgang versammeln sich deren Familien an den Gräbern auf dem neu angelegten Märtyrerfriedhof von Qamischli. Viele Autofahrer haben Bilder gefallener YPG-Kämpfer an die Windschutzscheibe geklebt. Oft zu sehen ist das Foto von Schervan. Der jüngste Sohn des PYD-Vorsitzenden Salih Muslim war wenige Tage zuvor im Kampf gegen Al-Qaida gefallen.

In der Ferne steigt über der weiten, von Ölpumpen übersäten Ebene hinter der Stadt Derik Rauch auf. Schon seit Stunden tobt hier eine Schlacht. Hunderte »Gotteskrieger« versuchen, trotz eines von den YPG über die Feiertage verkündeten Waffenstillstandes zu den Ölfeldern vorzudringen. Die zum Teil aus dem Irak eingedrungenen Angreifer erleiden hohe Verluste. Ein erbeuteter Panzer wird von den Volksverteidigungskräften im Triumphzug in die Ölstadt Rumelan gebracht. Doch auch die kurdischen Milizen haben 15 Gefallene zu beklagen. Tausende Menschen haben sich am nächsten Tag entlang der Straßen zum Friedhof versammelt und skandieren: »Die Märtyrer sind unsterblich Die Särge der Freiheitskämpfer sind mit den kurdischen Farben Gelb, Rot und Grün geschmückt. Doch in Rojava wird heute nicht nur die Freiheit des kurdischen Volkes, sondern auch die Zukunft Syriens verteidigt.

 

Anmerkungen

1 Die rund drei Millionen Kurden bilden die nach den Arabern größte ethnische Gruppe in Syrien.

2 Die Zahlen beruhen auf einem staatlichen Zensus von 2004, während kurdische Quellen von über 400000 Einwohnern ausgehen.

3 Der Schriftsteller und Politiker Celadet Ali Bedirxan (1893–1951) war Vorsitzender der kurdischen Unabhängigkeitspartei Xoybûn, die 1927 den Ararat-Aufstand organisierte.

4 Durch die Eroberung eines bislang von Al-Qaida kontrollierten Grenzübergangs bei Til Kocer in den Irak durch die YPG bietet sich seit Ende Oktober eine Alternative zu den geschlossenen Passierstellen.

5 Nach monatelangem Stellungskrieg brachten die YPG den durch eine Ausgrabung weltberühmten prähistorischen Siedlungshügel Tell Halaf in der Nacht zum 5. November unter ihre Kontrolle.