junge Welt 03.11.2007 / Wochenendbeilage / Seite 4 (Beilage)


Roter Stern und Öcalan-Bilder

Der Nordirak ist Rückzugsgebiet für kurdische Organisationen aus der Türkei und dem Iran. Zu Besuch im Flüchtlingscamp Maxmur und bei Guerillaeinheiten der PKK und der Komalah. Ein Reisebericht

Von Nick Brauns


Drückende Hitze lastet auf Maxmur. Die Kleinstadt im Nordirak liegt inmitten einer unfruchtbaren Sand- und Steinwüste auf halber Strecke zwischen den umkämpften Städten Mossul und Kirkuk. Im Sommer wird es hier über 50 Grad heiß, Ende September sind es noch fast 40 Grad. Weit vor den Toren der Stadt befindet sich das »Camp Maxmur«, an dessen Eingang die Fahne des UN-Flüchtlingshilfswerkes ­UNHCR weht. Kontrolliert werden die Besucher indes von Peschmergas, bewaffnete Kräfte der die Region regierenden Demokratischen Partei Kurdistans (KDP).

Die Bewohner von Camp Maxmur waren Anfang der neunziger Jahre aus den kurdischen Gebieten der Türkei geflohen, als die Armee ihre Dörfer angriff und vernichtete. Nachdem ihre Lager im kurdischen Nordirak immer wieder von den damals mit der Türkei verbündeten KDP-Kämpfern angegriffen wurden, gewährte ihnen 1998 ausgerechnet Iraks Präsident Saddam Hussein Schutz. Maxmur liegt auf dem 36. Breitengrad jenseits der nach dem Golfkrieg 1991 vom UN-Sicherheitsrat ausgerufenen Schutzzone und gehört auch heute noch nicht zur autonomen Region Kurdistan des Nordirak. Im Camp leben 11000 Flüchtlinge, mehrheitlich Frauen, Kinder und Jugendliche. Am Hang eines Hügels haben sie aus Lehmziegeln kleine Hütten errichtet. Ein neues Schulgebäude ist gerade im Bau. Die Lehrerinnen mischen den Beton selber. Entlang der staubigen Straßen finden sich kleine Läden mit Haushaltsartikeln, der Medya-Billardsalon und das Roj-Internetcafé. Im »Abdullah-Öcalan-Volkspark«, benannt nach dem 1999 von der Türkei verschleppten und auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten kurdischen Politiker, wird vor allem Gemüse angebaut. Strohdächer sorgen für etwas Schatten. In einigen Vorgärten werden Schafe und Hühner gehalten. Strom gibt es nur wenige Stunden am Tag, die Wasser- und Lebensmittelversorgung hängt vom UNHCR ab.

In jedem Haus findet sich ein Bild von Öcalan, des ehemaligen Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Dieser wird als prophetenähnliche Symbolfigur verehrt. »Öcalan ist der philosophische und strategische Theoretiker einer auf Ökologie und Geschlechterbefreiung aufbauenden Demokratie«, erzählt Berivan, eine der Aktivistinnen im Frauenkulturzentrum. »Während die anderen kurdischen Führer nur an die Macht wollen, um das Volk auszubeuten, gibt uns Öcalan eine Philosophie, mit der wir uns selbst befreien können.«

Maxmur ist eine Art Feldversuch, in dem Öcalans Überlegungen zu direkter Demokratie und Frauenbefreiung erprobt werden. Alle Leitungsfunktionen sind paritätisch besetzt, es gibt einen Bürgermeister und eine Bürgermeisterin. »Eine Doppelspitze wie bei den Grünen«, witzelt ein Kurde, der eine Zeitlang in Deutschland lebte. Zusätzlich zum jährlich gewählten Volksparlament existiert ein Frauenparlament, das gerade das Verbot von Polygamie und der Verheiratung Minderjähriger beschlossen hat. Bei Zuwiderhandlung droht der Rausschmiß aus dem Camp. Einflußreiche Stammesführer wollen sich bislang nicht den demokratischen Beschlüssen beugen. Die PKK-Aktivisten wollen sie jetzt dazu bewegen, sich ins Volksparlament wählen zu lassen, um sich so vor der Öffentlichkeit zu verantworten.


Eine Rückkehr in die Türkei scheint zwar derzeit wie ein ferner Traum, doch pflegen die Flüchtlinge die starke Bindung zu ihrer Heimat. Hier zeigen die Uhren türkische, nicht irakische Zeit an, liegen also eine Stunde zurück. Wenn der Satellitensender Roj-TV in den Abendnachrichten über Kämpfe der Guerilla mit Ankaras Armee berichtet, sitzen die Bewohner vor dem Fernseher. Fast jede Familie hat Gefallene zu beklagen. Hunderte Fotos erinnern daran im »Haus der Märtyrer«. Auffällig viele Frauen in Maxmur waren selbst bei der Guerilla und wurden bei Gefechten verwundet. Aus politischen Gründen ist ihnen eine Rückkehr in ihre Dörfer in der Türkei nicht möglich. Zudem wollen sie nicht in die autoritären Familienstrukturen zurückfallen. Jetzt arbeiten sie unter anderem als Lehrerinnen oder als Redakteurinnen der alle zwei Wochen erscheinenden Camp-Zeitung Rojev a Nu (Tagesthemen).

Die türkische Regierung fordert seit langem eine Schließung des Lagers, das sie als »PKK-Zentrale« bezeichnet. Anfang dieses Jahres durchsuchten US-Besatzungssoldaten das Camp. Doch gegenüber Washingtons Sonderbeauftragtem in Sachen der kurdischen Guerilla, General a.D. Joseph Ralston, machten die Sprecher der Flüchtlinge klar, daß eine Rückkehr in die Türkei ohne demokratische Lösung der kurdischen Frage ausgeschlossen sei. Lediglich die Verlegung des Camps in eine weniger heiße, fruchtbarere Region in Irakisch-Kurdistan wird erwogen, damit die Bewohner – meist ehemalige Bergbauern – wieder von ihrer eigenen Arbeit leben können.

Im Mai kam es zu einem Anschlag nahe des Lagers, bei dem 30 Menschen starben. Die Täterschaft blieb im dunkeln, doch meinen Bewohner, daß mit derartigen Attentaten das geplante Referendum über die Eingliederung der Erdölstadt Kirkuk und weiterer Gebiete wie Maxmur in die kurdische Autonomiezone verhindert werden soll. Inzwischen hat das Lagerparlament einen Graben anlegen lassen, um Anschläge mit Sprengstofflastern zu verhindern. »Im Camp gibt es keine Waffen. Die wichtigste Sicherheitsgarantie ist die Guerilla in den Bergen«, erzählt Nilüfer Koc, Vizepräsidentin des aus der PKK hervorgegangenen Volkskongresses Kurdistan Kongra-Gel bei einem Besuch in Maxmur. »Von der Stärke der Guerilla hängt es ab, wie weit uns die anderen Parteien respektieren.«

Im Kandil-Gebiet

Von der Hauptstadt der kurdischen Region Erbil führt der Weg in die Berge ostwärts in Richtung der iranischen Grenze. Einige Kilometer nach dem letzten Checkpoint der Regionalregierung wehen hinter einer Kurve plötzlich PKK-Fahnen, ein überdimensionales Porträt von Abdullah Öcalan ist an einem Berghang zu sehen. Zwei junge Bewaffnete kontrollieren die vorbeifahrenden Autos. Wir sind im von der PKK dominierten Kandil-Gebiet.

Das Kandil-Gebirge gilt als Tor nach Kurdistan. Diese strategisch wichtige Bergkette zieht sich entlang der iranisch-irakischen Grenze mit Ausläufern in die Türkei und bis nach Syrien. Hierher haben sich früher bereits die irakisch-kurdischen Peshmerga und die Aktivisten der Kommunistischen Partei des Irak zurückgezogen – auf der Flucht vor Saddam Husseins Armee. Als Abdullah Öcalan 1999 nach seiner Gefangennahme den Rückzug der Guerilla aus der Türkei anordnete, eroberte die PKK im Jahr 2000 das Gebiet gegen den Widerstand der Peshmerga der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) des jetzigen, von den USA gestützten irakischen Präsidenten Dschalal Talabani. Heute sollen dort mehrere tausend Kämpfer der PKK und der iranisch-kurdischen »Partei für ein Freies Leben in Kurdistan« (PJAK) stationiert sein. Die US-Army und die Regionalregierung dulden die Guerilla bislang trotz aller Proteste aus Ankara. Von hier aus starten PJAK-Kämpfer ihre Angriffe auf die Armee im Nachbarland Iran. Umgekehrt hat iranische Artillerie in den letzten Wochen mehrfach Gebiete auf irakischer Seite beschossen.

In einer Steinhütte treffen wir Mahsum Bagok, ein Leitungsmitglied der »Vereinigten Gesellschaften Kurdistans« (KCK), einer Dachorganisa­tion der aus der PKK hervorgegangenen Parteien, Frauenorganisationen und der Guerilla. »Der Mittlere Osten gleicht einem Tisch von Wölfen. Die Imperialisten wollen die Kurden wie in der Vergangenheit für ihr schmutziges Spiel nutzen«, warnt Bagok. »Entscheidend ist, daß wir unsere Unabhängigkeit wahren.« Daher kritisiert Bagok, daß der Vorsitzende der ebenfalls in der KCK vertretenen PJAK, Haci Ahmedi, kürzlich in Washington um Beistand nachsuchte.

40 Prozent Frauen

»Unsere Bewegung unterscheidet sich von anderen kurdischen Parteien grundsätzlich, weil unser Ziel kein neuer Staat ist, sondern eine freie Gesellschaft.« Der als »Zukunftsmodell« für den ganzen Mittleren Osten gedachte »Demokratische Konföderalismus« sieht die Selbstorganisation der Bevölkerung in föderativ verbundenen Kommunen und Volksparlamenten vor, ohne existierende Landesgrenzen zu verändern. Öcalan, der dieses Modell im Gefängnis entwickelt hat, ließ sich dabei nach eigenen Aussagen von den Ideen des im vergangenen Jahr verstorbenen US-amerikanischen Anarchisten Murray Bookchin inspirieren. »Das Maß der Freiheit der Frauen ist Gradmesser für die gesellschaftliche Freiheit«, meint Zilar Sterk, eine Vertreterin der kurdischen Frauenorganisationen. Innerhalb der KCK gilt eine Geschlechterquotierung von 40 Prozent.

Mit dem Geländewagen geht es einen steilen Bergpfad hinauf. Entlang der nächsten Gebirgskette verläuft bereits die Grenze zum Iran. In einer von Eichenwäldern durchzogenen Hochebene befindet sich ein Camp der Frauenguerilla. Rund 30 Kämpferinnen im Alter zwischen 17 und 30 Jahren leben hier. Die Mehrzahl von ihnen sind Kurdinnen aus der Türkei, einige auch aus Syrien und dem Irak. Noch vor Sonnenaufgang um 4.30 Uhr beginnt der Tag. Nach Frühsport und Frühstück informieren sich die Frauen per Satellitenfernsehens über aktuelle politische Entwicklungen. Dann folgen Arbeiten oder politische Schulung und nach dem Mittagsessen militärisches Training. Anschließend wird Volleyball gespielt.

Aus Steinen haben die Frauen ein Schulgebäude errichtet. Unterrichtet werden unter anderem die »Werke von Abdullah Öcalan«. Diskutiert wird beispielsweise, wie durch den Beginn der Sumerer-Herrschaft vor rund 6000 Jahren in Mesopotamien das Matriachat durch das Patriachat abgelöst wurde. Klassische Texte der europäischen Frauenbewegung spielen bei den Diskussionen keine Rolle. Clara Zetkin und Simone de Beauvoir sind höchstens dem Namen nach bekannt.


Beziehungen sind in der Guerilla verboten. »Wir teilen alles im Leben mit unseren männlichen Genossen, nur keine sexuellen Beziehungen«, erläutert die 25jährige Nisteman. Sie hat sich im Alter von 13 Jahren der PKK anschlossen. Die Alternative wäre eine von den Eltern vermittelte Zwangsehe gewesen.

»Weil wir gegen ein von Männern dominiertes System kämpfen, können wir nicht gleichzeitig Beziehungen mit Männern haben. Um eine freie Gesellschaft zu erreichen, müssen wir bis dahin unsere individuelle Freiheit opfern«, meint die junge Guerillera. »Ich sehe das Leben in den Bergen als Quelle für eine freie Entwicklung als Frau. Unsere Entwicklung hier wird aber auch in der Gesellschaft reflektiert. Unsere Waffen und Uniformen sind ein Freiheitssymbol für die Frauen.« Während im Kandil-Gebiet über eine herrschaftsfreie Gesellschaft diskutiert wird, hat das Parlament der Türkei in Ankara grünes Licht für einen Einmarsch der Armee in den Nordirak gegeben. Panik löst diese Ankündigung bei der Guerilla nicht aus. Bei Angriffen könnte man sich weiter in das unwegsame Gelände zurückziehen.

Bei der Komalah

Eine halbe Autostunde von der quirligen Metropole Sulaimania entfernt ist das Hauptquartier der »Komalah« (etwa: »Gesellschaft«), deren vollständiger Name ursprünglich »Revolutionäre Organisation der Werktätigen Kurdistan-Iran« lautete. Sie betrachtet sich als marxistisch und kämpft seit 1967 für ein »freies Kurdistan« und einen sozialistischen Iran. Mit Kalaschnikows bewaffnete Peshmerga begleiten uns. Am Ende des Dorfes Sargues, gleich neben der Moschee, markieren rote Fahnen den Eingang zum Lager. Mehrere hundert Kämpfer leben hier zum Teil mit ihren Familien. In der Mitte ragt ein Wachturm mit einem großen roten Stern hervor.

Neben der bürgerlichen »Demokratischen Partei Kurdistans-Iran« ist die Komalah die einflußreichste Gruppierung unter den rund acht Millionen Kurden im Iran. Ein rechter Flügel, der auf die Reformer um den ehemaligen iranischen Präsidenten Mohammad Khatami setzte und heute von den USA unterstützt wird, spaltete sich im Jahr 2000 ab. Die linke Komalah begreift sich als Kurdistan-Organisation einer noch aufzubauenden Kommunistischen Partei des Iran.

Die iranische Armee hat das Camp mehrfach bombardiert. Der Sitz des Zentralkomitees ist daher mit einer dicken Betondecke geschützt. In dem mit Teppichen ausgelegten Raum stehen Bücherregale mit marxistischen Werken. »Die Komalah hatte sich nie an den realsozialistischen Staaten orientiert«, erläutert Politbüromitglied Salah Masuji – und zieht ein Buch von Trotzki aus dem Regal. Im Lager gibt es militärische Schulungen, doch steht für die Organisation der bewaffnete Kampf im Gegensatz zu früher nicht auf der Tagesordnung. Stattdessen orientiert sie auf den Sturz der Zentralregierung in Teheran durch außerparlamentarische »Bewegungen der iranischen Arbeiter, Frauen und Studierenden«. Im Camp werten junge Frauen und Männer über Internet geschickte Informationen von Aktivisten im Iran für Nachrichtensendungen aus: Komalah-TV berichtet über den inhaftierten Vorsitzenden der Teheraner Busfahrergewerkschaft Mansur Ossanlou, über den Streik südiranischer Zuckerarbeiter für die Auszahlung ihrer Löhne, aber auch über den Lokführerstreik in Deutschland.

Der Kampf um Frauenrechte wird von der Komalah als Teil des Kampfes gegen den Kapitalismus verstanden. Seit langem – weit vor der PKK – gibt es auch Frauen bei der Guerilla der Organisation. »Ich habe mich der Komalah angeschlossen, weil diese Partei im Unterschied zu anderen kurdischen Organisationen die Menschenrechte, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen sowie den Klassenkampf vertritt«, erzählt die heute 60jährige Rakshanda Belori. Als sie vor 24 Jahren zu den Peshmerga in die Berge ging, ließ sie ihren Mann und fünf Kinder in der Stadt zurück.

Die iranischen Kurden sollen nach der Vorstellung der Komalah in einem Referendum über ihre Zukunft entscheiden. »Wir befürworten einen gleichberechtigten Verbleib im Iran, da die Kurden in einer Föderation oder einem eigenen Staat keinen Einfluß auf die iranische Wirtschaft, Verteidigung und Außenpolitik hätten«, so Masuji . Einen US-Angriff auf den Iran lehnt die Komalah strikt ab. »Die Katastrophe im Irak hat jegliche Illusionen im Zusammenhang mit den USA gründlich zerstört«, meint Masuji Washingtons Kriegsdrohungen führten nur dazu, daß die iranische Regierung ihre Angriffe gegen die Kurden steigern und als Selbstverteidigung ausgeben könne.

Die Zukunft des Mittleren Ostens wird mit davon abhängen, ob es den kurdischen Parteien gelingt, die imperialistischen Pläne in der Region zu durchkreuzen. Sollten sie sich – wie die KDP und PUK im Irak – zum Werkzeug der USA machen lassen, droht ihnen einmal mehr ein Schicksal als Bauernopfer der Weltpolitik.