Junge Welt 12.01.2013
/ Geschichte / Seite 15
Deutsche Provokation
Kanzler Cunos Politik führte
vor 90 Jahren zu Frankreichs Besetzung des Ruhrgebiets
Von Nick
Brauns
Am 10. Januar 1923 kündigten die
Regierungen Frankreichs und Belgiens der deutschen Reichsregierung die
Entsendung eines Ingenieurgremiums zur Kontrolle der Kohlesyndikate im
Ruhrgebiet an. Hintergrund war ein von der Interalliierten Kontrollkommission
festgestellter Rückstand Deutschlands bei den durch den Versailler Vertrag nach
Ende des Ersten Weltkrieges festgelegten Reparationszahlungen von Holz und
Kohle. Die Ingenieure bedürften eines militärischen Schutzes, hieß es in der
Note weiter. Am nächsten Tag rückten französische Panzer in die Stadt Essen
ein, und 60000 französische und belgische Soldaten besetzten das Ruhrgebiet.
Das industrielle Herz Deutschlands mit 72 Prozent der Steinkohleförderung, 54
Prozent der Roheisen- und 53 Prozent der Rohstahlförderung des Landes war nun
einer Fremdherrschaft unterworfen und durch eine Zollgrenze vom übrigen Reich
getrennt. »Ich ziehe die Besetzung und die Eroberung dem Geldeinstreichen und
Reparationen vor«, hatte der französische Präsident Raymond Poincaré
bereits im Juli 1922 keinen Hehl aus derartigen Absichten gemacht.
Allerdings hatte die Reichsregierung unter der Kanzlerschaft des parteilosen
Großindustriellen Wilhelm Cuno die Besetzung des
Ruhrgebiets regelrecht provoziert. Zuvor waren Verhandlungen der Ruhrbarone mit
der französischen Stahlindustrie über die Bildung einer westeuropäischen
Montanunion gescheitert, da die französischen Kapitalisten für sich einen
60prozentigen Anteil verlangten, während die deutsche Seite eine paritätische
Beteiligung forderte. Die von den reaktionärsten Köpfen des Monopolkapitals wie
Hugo Stinnes und Fritz Thyssen getriebene Reichsregierung ließ es nun
absichtlich zu einem Rückstand bei den Reparationsleistungen kommen, um der
französischen Regierung einen Anlaß zum militärischen
Handeln zu geben. Dahinter stand die abenteuerliche Spekulation, bei einer
Zuspitzung des deutsch-französischen Konfliktes die Alliierten Großbritannien
und USA zur Parteinahme für Deutschland zu bewegen, um eine Ausweitung des französischen
Einflusses zu verhindern.
Cunos »Widerstand«
Reichskanzler Cuno rief am 13. Januar zum »passiven
Widerstand« gegen die Weisungen der Besatzer auf. Als Bahnarbeiter in den
Streik traten, reagierte die französische Armee mit der Beschlagnahme der
Eisenbahnen sowie Massenverhaftungen und Ausweisungen von 147000 Einwohnern aus
dem Ruhrgebiet. Auf demonstrierende Arbeiter wurde scharf geschossen, es gab
über 130 Tote während des Ruhrkampfes. Wirkungsvoller Widerstand wäre auf
wirtschaftlichem Gebiet möglich gewesen, denn die französische Regierung konnte
zwar Soldaten zum Abtransport der Kohle, aber keine Bergarbeiter schicken. Doch
die Zechenbesitzer lehnten aus Sorge um ihre Profite eine Schließung ihrer
Gruben ab. »Der sogenannte passive deutsche Widerstand des Jahres 1923 ist
daher eigentlich eine Legende«, schreibt der marxistische Historiker Arthur
Rosenberg als Zeitgenosse der Ereignisse. »Um die sabotierenden Kapitalisten
mit eiserner Hand unter die nationalen Notwendigkeiten zu beugen, wäre eine
Regierung im Geiste von 1793 nötig gewesen, aber Cuno
war kein Robespierre. Er fühlte sich trotz allem als der Kollege der
westdeutschen Kapitalisten und konnte gegen sie nicht durchgreifen.« So blieb der passive Widerstand zahnlos.
Die Besetzung des Ruhrgebiets führte zu einem Aufschwung nationaler Gefühle in
Deutschland, der Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) an die ersten Kriegstage
des Jahres 1914 erinnerte. Und wie damals waren die rechten
sozialdemokratischen Führer zu einem Burgfrieden mit der Reichsregierung
bereit. Gewerkschaften und Unternehmerverbände unterzeichneten einen
gemeinsamen Spendenaufruf für einen Ruhrhilfefonds. »Ich kann mich nicht
erinnern, daß es je so wenig Parteifeindschaft und Klassenhaß gab wie heute«, stellte der britische
Botschafter in Berlin fest. Faschistische Verbände erhielten massiven Zulauf.
Zu ihrem Idol wurde der im Mai nach Sabotageaktionen gegen die
Besatzungstruppen hingerichtete Freikorpskämpfer Albert Leo Schlageter.
Selbst der Vertreter der Kommunistischen Internationale, Karl Radek, würdigte Schlageter als »mutigen Soldaten der Konterrevolution«.
Dahinter stand die Absicht, Teile des nationalistischen Kleinbürgertums und der
Reichswehr an die Seite der Kommunisten und der Sowjetunion zu führen und damit
als Werkzeug der Konterrevolution zu neutralisieren.
Der Dawes-Plan
Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hatte noch unmittelbar vor Beginn
der Ruhrbesetzung auf einer Konferenz in Essen gemeinsam mit Kommunisten aus
anderen europäischen Länder zu einer internationalen proletarischen
Einheitsfront gegen den drohenden Truppeneinmarsch aufgerufen. Nun orientierte
die KPD die Arbeiter unter der Losung »Schlagt Poincaré
an der Ruhr und Cuno an der Spree!«
auf einen nationalen und sozialen Zweifrontenkampf. »Der erste große
entscheidende Schritt zur Befreiung, zur Wiederaufrichtung des deutschen
Vaterlandes ist der Kampf des deutschen Proletariats zum Sturz der Cuno-Regierung, zum Sturz jeder Koalitionsregierung, ist
der Kampf für die Arbeiterregierung«, erklärte Clara Zetkin. Sie forderte, daß die KPD als »Partei der stärksten, klarsten, bewußtesten Internationalität gleichzeitig auch zur
führenden nationalen Partei werden« müsse.
Um den »passiven Widerstand« im Ruhrgebiet zu finanzieren, warf die Regierung
die Geldpressen an. Diese hemmungslose Geldvermehrung wurde von
Finanzspekulanten und der Großindustrie in den folgenden Monaten bis zur
Hyperinflation angeheizt, so daß der Dollarkurs die
Milliardenmarke überschritt. Die so kalt enteigneten Mittelklassen kehrten der
Regierung den Rücken, während die Lebensbedingungen der Arbeiter immer
unerträglicher wurden. Der Einfluß der KPD wuchs von
Tag zu Tag. Schließlich erzwang eine maßgeblich von kommunistischen
Betriebsräten initiierte Massenstreikwelle am 12. August den Rücktritt des
Kabinetts Cuno. Um einen drohenden Bürgerkrieg oder
gar eine Revolution abzuwenden, erklärte sich die SPD bereit, in eine unter dem
Liberalen Gustav Stresemann gebildete Regierung der Großen Koalition
einzutreten.
Reichskanzler Stresemann verkündete am 26. September den Abbruch des »passiven
Widerstands«. Diesen von den Deutschnationalen als Verrat abgelehnten Schwenk
zur Verständigungspolitik mit den Westmächten vollzog die Reichsregierung, da
nun – wenn auch unter anderen Umständen – das Kalkül seines Vorgängers Cuno aufging. Angesichts des Anwachsens der revolutionären
Bewegung in Deutschland, das eine Schlüsselstellung in der weltweiten
Systemauseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus einnahm,
befürchteten die Vertreter des anglo-amerikanischen Großkapitals den Verlust
des Landes. Daher waren die Regierungen in London und Washington nicht länger
bereit, eine weitere Schwächung des deutschen Großkapitals durch ihren
Alliierten Frankreich hinzunehmen.
Mit dem im folgenden Jahr beschlossenen, nach dem US-amerikanischen
Finanzexperten Charles Gates Dawes benannten Plan wurde die Reparation aus
einem Instrument französischer Machtpolitik zu einem Geschäft der
US-Hochfinanz. Deutschland erhielt eine Auslandsanleihe von 800 Millionen
Goldmark als Starthilfe zur Sanierung seiner Wirtschaft. Die in Jahresraten zu
überweisenden Reparationszahlungen wurden der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit angepaßt. Reichsbahn und
Reichsbank kamen unter alliierte Kontrolle, und durch die Einsetzung einer
internationalen Finanzaufsicht wurde Deutschland, wie Arthur Rosenberg
bemerkte, »zu einer Art von Kolonie der New Yorker Börse«. Doch die
Reparationen konnten nun pünktlich gezahlt werden, so daß
im Sommer 1925 die Räumung des Ruhrgebiets erfolgte.