Dschihad am Ende?

Gilles Kepel stellt im „Schwarzbuch des Dschihad“ eine provokante These auf

 

Mit dem reißerischen Titel „Schwarzbuch des Dschihad“ möchte der Piper Verlag offensichtlich an den Erfolg seines antikommunistischen „Schwarzbuch des Kommunismus“ anknüpfen. Damit tut der Verlag dem französischen Orientalisten Gilles Kepel allerdings Unrecht, hat dieser doch ein gründlich recherchiertes und sachlich geschriebenes Werk vorgelegt, dessen französischer Titel „Aufstieg und Niedergang des Islamismus“ den Sachverhalt besser trifft.

Die französische Originalausgabe erschien bereits im Jahr 2000. Doch auch nach dem 11. September 2001 hält Kepel an seiner Grundthese fest: Die Phase der Expansion des militanten Islamismus ist vorbei, er ist im Niedergang begriffen. Islamisch-terroristische Bewegungen könnten zwar herrschende Regime destabilisieren, zur Machtübernahme fehlten ihnen allerdings die Strukturen und die soziale Basis.

Kepels Aussage ist als Selbstkritik zu werten. Anfang der 90er Jahre gehörte er zu denjenigen, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus im islamischen Fundamentalismus das neue „Reich des Bösen“ erblickten. Kepel gibt zu, die inneren Widersprüche und damit das selbstzerstörerische Potential des Islamismus vernachlässigt zu haben.

Seit dem militärischen Sieg über die Sowjetunion in Afghanistan 1989 habe die islamische Bewegung weltweit Niederlagen erlitten, so Kepel. In Algerien bekämpfen sich islamistische Gruppen gegenseitig und haben die Massenunterstützung der Bevölkerung eingebüßt. In Bosnien und Kosovo fanden die Parolen der Dschihadisten nicht die erhoffte Unterstützung. Die türkische Refah-Partei ließ sich widerstandslos verbieten und spaltete sich auf. Im Sudan geriet die Bewegung Hassan Al-Tourabis an den Rand. Und zuletzt wurden die Taliban durch das Zusammenwirken der nationalistisch ausgerichteten Nordallianz und den USA von der Macht vertrieben.

Zwei Hauptursache gibt Kepel für den Niedergang des Islamismus an: die Spaltung der islamistischen Bewegung sowie den Zerfall ihrer sozialen Basis.

Solange es den Dschihadisten gelang, sich auf ein Klassenbündnis aus städtischem Kleinbürgertum (dem Basar), ländlicher akademischer Gegeneliten und pauperisierter Jugend in den Slums zu stützen, befand sich die islamistische Bewegung auf dem Vormarsch. Doch der Iran blieb das einzige Land, in dem dieses Klassenbündnis bis zur Errichtung der Theokratie Bestand hatte. In anderen Ländern dagegen erkannte die Mittelschicht, dass sich die Gewaltakte zunehmend gegen sie selbst richteten und wandte sich moderateren, pragmatisch-religiösen Kräften zu.

Am Beispiel Algerien weist Kepel nach, wie die Basarhändler Anfang der 90er Jahre die Islamische Heilfront FIS unterstützten, im Zuge der blutigen Radikalisierung der Bewegung dann selber Opfer der Überfälle und Morde der Terroristen wurden und schließlich auf Distanz zur radikalen Islam gingen. Auch die wachsende Unterstützung für den Reformkandidaten Khatami im Iran passt in dieses Bild.

„Der 11. September ist nur verständlich, wenn man den Erschöpfungszustand begreift, den der politische Islam zuvor erreicht hat“, so Kepel. Die Isolation der harten Dschihadisten von ihrer sozialen Basis lässt diese zu spektakulären terroristischen Mitteln greifen. Kepel zieht den Vergleich zu „vom Weg abgekommenen (Klein-) Bürgern“ wie Carlos, der RAF oder der Roten Brigaden, die auftraten, als der Realsozialismus seine Bindekraft schon weitgehend eingebüßt hatte.

Die Schwerpunkte von Kepels Untersuchung bilden Algerien, Ägypten, Palästina, Iran, Pakistan, Afghanistan, Malaysia und Indonesien. Daraus ergibt sich der Vorwurf, dass der Autor zur Bekräftigung seiner These vom Niedergang des Dschihad gegenläufige Entwicklungen ignoriert hat. So unterschätzt Kepel den Vormarsch des radikalen politischen Islam in Afrika und den mit saudischen Petrodollars gesponsorten Aufstieg der islamischen Bewegung in den zentralasiatischen GUS-Republiken. Eine schwere Unterlassung ist es, wenn die tschetschenischen Islamisten in dem 450 Seiten starken Werk auf gerade mal zehn Zeilen abgehandelt werden! Aufgezeigt wird zwar kurz die Entstehungsgeschichte der libanesischen Hizbollah, dass die „Partei Gottes“ mittlerweile nach dem Sieg über die zionistische Besatzung die Staatsmacht in einem Teil des Libanon errichtet hat, ist Kepel nicht einmal eine Erwähnung im aktualisierten Vorwort wert.

Diese Auslassungen legen eine Modifikation von Kepels Grundthese nahe. So befindet sich der Islamismus offensichtlich dort weiterhin im Aufwind, wo er die Führung nationaler Befreiungskämpfe übernehmen konnte, wie in Tschetschenien, Palästina und dem Libanon, sowie in denjenigen Regionen, wo die Menschen bisher noch keine ausreichenden Erfahrungen mit den Gotteskriegern haben, wie in Afrika und Zentralasien.

 

Kepel drückt abschließend seine Hoffnung auf die Entwicklung einer „muslimischen Demokratie“ aus. Das Fehlen eines entwickelten Finanzwesens und die Vorherrschaft  feudaler Strukturen in den islamischen Staaten verhindern bislang die Entwicklung einer selbstbewussten bürgerlich-kapitalistischen Klasse als Träger einer solchen Demokratie, bemerkte der Autor bei der Buchvorstellung in München zu Recht, um dann genau den feudalen Eliten die Verantwortung für einen Wandel zu übertragen. „Sollten es diese Eliten dabei belasse, aus dem momentanen Niedergang des Islamismus einen kurzfristigen und egoistischen Nutzen zu ziehen, sollten sie keine Reformen in Angriff nehmen, muss die muslimische Welt in naher Zukunft mit neuen Aufständen rechnen, mag ihre Sprache nun islamistisch, ethnisch, rassisch, konfessionell oder populistisch gefärbt sein.“ Die Schwäche des Bürgertums und die offenkundige Reformunfähigkeit und Unwilligkeit feudaler Eliten in der Art des Saudischen Königshauses erfordern dagegen eine von Kepel vergessene Alternative für die Länder des islamischen Halbmondes: den Sturz der korrupten feudalen, islamischen oder nationalistischen Herrschercliquen durch die Volksmassen und die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, in der der Ölreichtum der Region allen ihren Bewohnern zu Gute kommt.

 

Nick Brauns

 

Gilles Kepel: Das Schwarzbuch des Dschihad. Aufstieg und Niedergang des Islamismus. Piper Verlag München 2002. 532 Seiten, Gebunden. 29.90 Euro. ISBN 3-492-04432-8