Tageszeitung junge Welt

15.04.2006 / Wochenendbeilage / Seite 4 (Beilage)


Unter Schmugglern, Partisanen und Bombenlegern

Durchs wilde Kurdistan zu Frühjahrsbeginn. Beobachtungen im türkisch-iranisch-irakischen Grenzgebiet

Von Nick Brauns

Der Kommandant der türkischen Militärpolizei »Jandarma« empfängt uns am Checkpoint auf der Straße von Van nach Hakkari mit dem Gestus eines Kolonialoffiziers: »Was wollen Sie in Hakkari? Dort leben nur Terroristen und Barbaren. Fahren Sie lieber nach Antalya. Das ist für Touristen.«

Die im iranisch-irakischen Grenzgebiet gelegene Provinz Hakkari ist das Armenhaus der Türkei. 7121 Quadratmeter groß, 266061 Einwohner. »Die Gegend von Hakkari ist die gebirgigste, verlassenste Ecke unseres Landes. Sie ist umgeben von unzugänglichen Bergen ohne Straßen. Die Berge, die das Gebiet von allen Seiten einschließen, erreichen eine Höhe von bis zu 4000 Metern«, heißt es einem alten Tourismusführer der Zeitung Milliyet. »An vielen Orten verwandeln sich die Täler zu engen Schluchten. Zu den kleinen Ortschaften und Dörfern fahren nicht einmal im Sommer Motorfahrzeuge.«

Im Herbst 2005 erschütterte eine Serie von Bombenexplosionen Hakkari. Zentrum der Anschläge war Semdinli, die entlegenste Stadt der Türkei nahe der iranischen Grenze. Zuerst wurde am Weltfriedenstag, dem 1. September, eine Handgranate geworfen. Zwei Monate später detonierte ein in einem Lastwagen versteckter 100-Kilo-Sprengsatz vor einer Ladenpassage. Ein Krater in der Straße und die Ruine des Gebäudes zeugen immer noch von der Wucht der Detonation, die 23 Menschen verletzte. Am 9. November dann flog eine Handgranate in den nur wenige Meter neben dem zerstörten Ladenzentrum gelegenen Buchladen »Umut« (Hoffnung). Ein Besucher wurde dabei getötet, 15 weitere Menschen verletzt.

Das Besondere diesmal: Passanten gelang es, die fliehenden Attentäter zu stellen. Ihre Ausweise wiesen sie als Unteroffiziere des Militärgeheimdienstes aus. Auch ein Überläufer aus der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) wurde gefaßt. Im Fluchtwagen befanden sich neben Waffen und Anschlagsplänen eine Liste mit Namen von 105 Personen, die angeblich die verbotene PKK unterstützten. Ganz oben stand rot markiert: »Seferi Yilmaz« – Yilmaz, der Buchhändler.

Nun kam es in Semdinli, Hakkari, Yüksekova und anderen kurdischen Städten zum Aufstand. Barrikaden wurden errichtet, Panzer mit Molotowcocktails in Brand gesetzt und eine Polizeistation gestürmt. Die Polizei schoß in die Menge und tötete mehrere Menschen. Die größten Demonstrationen mit bis zu 80000 Teilnehmern fanden in der Stadt Yüksekova statt. An der Fassade des Zagros-Einkaufszentrums erinnern hier noch Einschüsse an die Straßenschlachten. Der Schriftzug »Zagros«, der kurdische Name eines Gebirges, mußte inzwischen auf Veranlassung der Armee abmontiert werden.

In dieser Ecke der Türkei haben insbesondere die Jugendlichen nichts mehr zu verlieren. »Mit der Schule sind wir fertig«, antworten sie auf die Frage danach, was sie denn arbeiten. Und weiter: »Wir sind Anhänger von Abdullah Öcalan.« Für den auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Führer würden sie ihr Leben geben, behaupten sie und nennen den 1999 aus Kenia in einem Geheimdienstkomplott Verschleppten »Apo« – ihr Synonym für ein besseres Leben.

Im Buchladen Hoffnung

Die Fahrt von Yüksekova nach Semdinli führt einige Kilometer über eine breite, schnurgerade Straße. Die Piste war einst ein geheimer Flughafen der USA im zweiten Golfkrieg zu Beginn der 1990er Jahre. Bei einem Angriff auf den Iran würde Washington sie reaktivieren wollen. Doch das hängt letztlich von der Türkei ab.

Die lebhafte Kleinstadt Semdinli liegt inmitten hoher, schneebedeckter Berge. Durch Schmuggel sind einige Einwohner zu Wohlstand gekommen. Männer in weiten Pluderhosen mit um den Kopf gewickelten Tüchern lehnen an geländegängige Pickups oder wedeln mit Geschäftspapieren. Ein weißes Auto folgt uns langsam. Dem Militärgeheimdienst entgehen keine Fremden.

In einer Passage an der Hauptstraße liegt der Buchladen »Umut«. Yilmaz, der Buchhändler von der Todesliste der Geheimdienstleute, freut sich, als er hört, daß ich für eine marxistische Tageszeitung arbeite. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr sei er Sozialist, erzählt der heute 43jährige. Schon 1977 schloß er sich der PKK an. »Faschisten lassen sich nicht gewaltfrei bekämpfen«, erläutert er. Damals war die Organisation noch nahezu unbekannt. »Die Menschen hier in Kurdistan waren ungebildet und konnten nicht lesen. Lenin hatte die Zeitung Iskra, die PKK zog durch die Dörfer, um mündlich aufzuklären.«

Am 15. August 1984 begann der bewaffnete Aufstand der PKK, als Guerillaeinheiten die kurdischen Städte Eruh und Semdinli angriffen. In Semdinli beschossen sie den türkischen Militärstützpunkt mit Maschinengewehren und Raketen. Mehrere Soldaten und Offiziere wurden dabei verletzt oder getötet. Als die Guerilleros anschließend Flugblätter in den Kaffeehäusern verteilten und Transparente mit Parolen und den Bildern von Märtyrern der PKK aufhängten, war der 21jährige Yilmaz mit dabei. Kurze Zeit später verriet ihn ein gefangener Mitkämpfer unter Folter. Yilmaz wurde festgenommen und für 15 Jahre ins berüchtigte Militärgefängnis von Diyarbakir gebracht.

Als der Gefangene endlich im Jahr 2000 freikam, eröffnete er den Buchladen »Umut«. Heute muß er nicht mehr mit der Waffe in der Hand aufklären. Die Jugendlichen aus Semdinli und den umliegenden Dörfern kommen in seine Buchhandlung. »Bücherverkauf ist unwichtig. Wichtig ist, daß die Jugendlichen lesen und lernen.« Im Sortiment finden sich Sachbücher und Romane in türkischer und kurdischer Sprache, darunter auch Bücher über Karl Marx, Sigmund Freud, die russische Revolution und den Irak-Krieg. Und viel russische Literatur. Tolstoi und Tschernitschewski gehören zu Yilmaz' Lieblingsschriftstellern.

»Erleuchten wir die Türkei von Semdinli aus« – so das anspruchsvolle Motto der diesjährigen Feste zu Newroz, dem kurdischen Neujahr, am 21. März. Doch in Semdinli hatte die Armee das Fest verboten. Statt dessen wurde unter großer Beteiligung der Bevölkerung und mehrerer Bürgermeister der kurdischen Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) die renovierte »Umut«-Buchhandlung eingeweiht. Ermöglicht wurde die Wiedereröffnung durch Bücherspenden von Buchhändlern und sozialistischen Schriftstellern wie Ragip Zarakoglu. »Manchmal verändert ein Buch das ganze Leben. Vielleicht wird jetzt ein Buchhändler die Zukunft der Türkei verändern«, kommentierte Osman Beydemir, der Oberbürgermeister der Millionenstadt Diyarbakir.

In der Buchhandlung hängen Kopien der bei den Attentätern gefundenen Anschlagspläne. Und in einer Vitrine sind mit Blut bespritzte und vom Feuer demolierte Bücher zu sehen. »Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen«, zitiert Yilmaz zum Abschied Heinrich Heine.

Schmugglerpfade

Im Taxi zur türkisch-iranischen Grenzstation Esendere lerne ich Mesud und Hamid kennen. Sie sind auf Shoppingtour. Ihre Einkaufsliste enthält Digitalkameras, DVD-Player und Computerzubehör. Im Iran werden sie die High-Tech-Geräte günstig erwerben und dann mit Pferden über verborgene Pfade in die Türkei bringen. Zudem ist der Schmuggel auch aus dem Irak lukrativ, seitdem die USA dort eine zollfreie Zone eingerichtet haben. 2000 Euro kostet ein Maultier. Ganze Dorfgemeinschaften haben zusammengelegt, um sich einige Pferde zu kaufen. Innerhalb weniger Jahre sind arme Bauern auf geheimen Pfaden zu Wohlstand gelangt.

Kurz vor der Grenze biegt das Taxi zu einem Bauernhof ab. Hier blüht der Schwarzmarkt. Aus großen Kanistern füllt ein Junge das billige Benzin in den Tank. Der Treibstoff gelangte zuvor auf Pferderücken über die Grenze, und mir fällt die »Zeit der trunkenen Pferde ein«. Der iranisch-kurdische Regisseur Bahman Ghobadi hat in dem mit der »Goldenen Kamera« ausgezeichneten Film das anrührende Schicksal von Waisenkindern porträtiert, die sich als Begleiter der schwerbeladenen Vierbeiner verdingen, um zu überleben.

An der Grenzstation Esendere bieten sich Kontraste: Die Bilder von Mustafa Kemal Atatürk, Türkei-Gründer, und Ayatollah Khomeini, Führer der islamischen Revolution im Iran, hängen sich gegenüber. Doch herrscht zwischen den türkischen Grenzposten und ihren in grünen, goldbeknopften Uniformen gekleideten iranischen Kollegen eine eher freundschaftliche Atmosphäre. Hier profitiert jeder vom Schmuggel. In Sichtweite eines Checkpoints laden Männer Säcke voll Zucker, Tee und Tabak in eine Scheune. Und auf dem Basar von Yüksekova bezahlen Soldaten mit Zigarettenstangen.

Doch nicht nur Benzin, Zucker und Digitaltechnik wird im iranisch-irakisch-türkischen Grenzgebiet geschmuggelt, auch härtere Sachen. Inmitten der hügeligen Landschaft mit ihren armseligen Bauerndörfern stehen protzige, grellfarbige Villen. Sie gehören den Großdealern, reich geworden am Drogenpfad aus Afghanistan, der über den Iran in die Türkei führt. Sollte in der Region Frieden einkehren und die Militärpräsenz reduziert werden, so die Befürchtung vieler Kriegsgewinnler, würde das einträgliche Geschäft leiden. In dieser Überlegung liegt auch ein mögliches Motiv für die Bomben von Semdinli.

Checkpoint

Von Yüksekova nach Sirnak sind es weniger als 300 Kilometer. Doch der Minibus braucht für diese Strecke fast zehn Stunden. Schuld daran sind nicht die Steinbrocken, die von Baggern aus dem Weg geräumt werden müssen, oder die bis zu drei Meter hohen Schneewälle entlang der Straße. Elfmal werden wir an Checkpoints gestoppt. Unsere kurdischen Mitreisenden tun uns leid, müssen sie doch jedesmal warten, bis unsere Ausweise abgeschrieben sind. Mehrfach durchwühlen Soldaten das Gepäck. An den Wänden der Wachlokale hängen Fotos gesuchter Guerillakämpfer der PKK und der türkischen Revolutionären Volksbefreiungsfront. Auffällig ist die große Zahl junger Frauen unter den Gesuchten.

Besonders aggressiv sind die Soldaten an der inmitten verschneiter Bergen gelegenen Serbest-Kaserne. Mitte der 1990er Jahre hatte die Guerilla diese Kaserne angegriffen und mehr als 20 Soldaten getötet. Mit der Maschinenpistole im Anschlag belehrt uns ein aus Istanbul stammender Offizier, daß es in der Türkei kein kurdisches Problem gebe, sondern ein Terroristen-Problem.

Dorfschützer

Immer wieder sehen wir Ansammlungen von größeren Steinhaufen entlang der Straße. Das waren einmal Dörfer. Weil deren Bewohner in den Verdacht gerieten, die PKK zu unterstützen, wurden sie vertrieben und ihre Häuser dem Erdboden gleichgemacht. Der Fahrer des Dolmus (Sammeltaxi) dreht das Kassettenradio auf – ein Lied gegen die »Dorfschützer«. Diese bewaffneten Männer wurden von Großgrundbesitzern und vom Staat einst im Kampf gegen die Guerilla eingesetzt. In den neugebauten Häusern mit Blechdächern wohnen jetzt ausschließlich solche kurdischen Milizmänner und ihre Familien. Viele von ihnen sind selbst Vertriebene. Erst wurde ihnen die Lebensgrundlage entzogen, dann hat der Staat die Hoffnungslosen gekauft. 400 Lira (rund 260 Euro) monatlicher Sold sind hier schon ein Vermögen.

Landrover der Armee passieren. Neben Soldaten sitzen auf den Bänken Dorfschützer mit den traditionellen Pushis – kurdischen »Palästinensertüchern«. Allerdings scheint es, als habe ein Umdenken bei vielen der gegen die eigene Bevölkerung eingesetzten Männer begonnen. »Wir schämen uns, Dorfschützer zu sein«, erzählen uns zwei Männer, die uns zum Tee einladen. Sie nehmen zwar das Geld vom Staat, beteiligen sich aber seit sechs Jahren an keinen Militäroperationen mehr. Fast die Hälfte der rund 8000 Dorfschützer in Hakkari würden inzwischen die kurdischen Parteien DEHAP oder DTP wählen, berichtet Hasan Ciftci vom DTP-Ortsvorstand des Gebiets.

»Laßt euch nicht täuschen. Äußerlich bin ich ein Dorfschützer, aber im Herzen bin ich Kurde.« Der scheinbar aus dem Nichts aufgetauchte Mann mit der markanten Hakennase trägt eine traditionelle grüne Pluderhose. Sein Blick schweift zu den Kämmen der nahen Gebirgskette. Dort oben an der türkisch-irakische Grenze, die quer durch Kurdistan verläuft, patrouillieren Peschmerga der im besetzten Irak mitregierenden »Kurdischen Demokratischen Partei«. Der Barzan-Clan des Präsidenten von Irakisch-Kurdistan, Mesud Barzani, gehört derzeit zu den Gewinnern des US-Krieges gegen Irak. Der Mann erzählt. Er sei Schmuggler. Um nicht von seinem Land vertrieben zu werden, mußte er einwilligen, Dorfschützer zu werden. Regelmäßig besucht er nun das kurz hinter der Grenze gelegene Lager der PKK. Natürlich weiß auch die türkische Armee von dem Guerillalager. Doch aus Angst vor den USA greift sie nicht an.

Streckenweise führt die Straße einige Meter über irakisches Territorium. An einem Checkpoint am Harbor-Fluß steht ein weißer Kombi. In dessen Kofferraum hätten 25 Kalaschnikow-Maschinenpistolen gelegen, erzählt ein Soldat. Ein kurdischer Aga (feudaler Großgrundbesitzer) wollte diese Waffen aus dem Irak schmuggeln, um damit seine Privatarmee auszurüsten. Weil sein Kontaktmann bei der Jandarma nicht am Checkpoint war, flog die Sache auf. Der Wagen wurde beschlagnahmt, sein Besitzer durfte gehen.

Je näher wir der Stadt Sirnak kommen, desto massiver wird die Militärpräsenz. In den 1990er Jahren gab es hier in der Besta-Region eine befreite Zone, die von der Guerilla kontrolliert wurde. Doch mit dem Einsatz moderner Nachtsichtgeräte und der Vertreibung der örtlichen Bevölkerung gelang der Armee die Rückeroberung des Gebietes. Sirnak hat für die Guerilla weiterhin strategische Bedeutung. Aus ihren Lagern im Nordirak kommend müssen die PKK-Kämpfer an einer Engstelle von den Cudi- in die Gabbar-Berge wechseln.

An einem Checkpoint in Uludere sehen wir Acht-Rad-Panzerwagen. Sie kommen gerade von einer »Operation«, wie der Kommandant sagt, gegen die Guerilla zurück. »Alle aus Deutschland«, erklärt der Kommandant stolz die Herkunft der Fahrzeuge. Die Bundesregierung hat immer wieder bestritten, daß Panzer aus deutscher Lieferung in vertragswidriger Weise gegen die kurdische Bevölkerung eingesetzt werden.

Giftgaseinsatz

Ende März berichtet das Hauptquartier der Guerilla von einem Giftgaseinsatz der türkischen Armee. Ein PKK-Lager in den Bergen von Mus sei angegriffen worden. 14 Kämpfer kamen dabei um. Die Trauerzüge für sie mobilisierte Zehntausende in Diyarbakir und anderen Städten. Die Polizei eröffnet das Feuer. Wie zu Beginn der 1990er Jahre kursiert seitdem das Wort »Serhildan«. Es heißt übersetzt Volksaufstand.