junge Welt vom 28.05.2005

 

Wochenendbeilage

Die Welle wird zur Flut

Die »Bewegung des 30. Mai« – Auftakt zur chinesischen Revolution vor 80 Jahren

Nick Brauns

 

Die Ereignisse einer ganzen Periode erreichen oftmals ihren Höhepunkt in den Geschehnissen eines einzelnen Tages, der dann wie ein Meilenstein am Wege der Geschichte steht«, schrieb der langjährige Asienexperte der Kommunistischen Internationale Manabendra Nath Roy. »Solch einen Platz nimmt der 30. Mai 1925 in der chinesischen Revolution ein. An diesem Tag vollzog sich die endgültige Wendung im Befreiungskampfe des chinesischen Volkes.«

Mit 2,5 Millionen Einwohnern war Schanghai Mitte der 20er Jahre die größte Stadt Chinas. Formell selbständig, stand Schanghai seit dem Opiumkrieg 1842 de facto unter der Kontrolle imperialistischer Mächte. Etwa die Hälfte der Arbeiter war bei ausländischen Unternehmen – insbesondere japanischen Textilfabriken – beschäftigt. Die internationale Sonderrechtszone (»Konzession«) bildete einen Staat im Staate, der über Exterritorialität und das Recht auf freie Handelstätigkeit verfügte. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung lebte unter ausländischer Verwaltung. Die Macht über den Zentraldistrikt lag beim Stadtrat, der von

2700 mehrheitlich britischen Grundbesitzern gewählt wurde.

Blutbad und Massenstreik

Anfang Mai 1925 traten Arbeiter japanischer Baumwollfabriken von Schanghai in den Streik. Nachdem am 15. Mai japanische Vorarbeiter den Arbeiter Gu Zhenghong erschossen hatten, waren es Studenten, die zuerst als Vertreter der nationalen Empörung aufstanden. Revolutionäre Studenten, die 1922 die Schanghai-Universität als patriotische Lehranstalt gegründet hatten, trafen in »Nachtschulen des Volkes« auf protestwillige Industriearbeiter. Weil britische Polizisten bei der Trauerfeier für Gu Zhenghong sechs Studenten verhafteten, beschloß die Studentenbewegung, den 30. Mai zu einem antiimperialistischen Aktionstag zu machen. Unter Losungen wie »Schanghai den Schanghainesen« und »Boykottiert japanische Waren« marschierten Tausende den Prachtboulevard Nankingstraße innerhalb der internationalen Konzession hinab. Die Polizei nahm über 100 Protestierer fest. Als über 10000 Demonstranten vor der Louza-Polizeistation die Freilassung der Verhafteten forderten, gab ein britischer Polizeioffizier den Feuerbefehl. Zwölf junge Männer wurden getötet, unzählige verletzt.

Das Blutbad schockierte ganz Schanghai. Die Kommunistische Partei Chinas, die in Schanghai nur wenige hundert Mitglieder hatte, beschloß, die Proteste auf alle Klassen auszudehnen, um mit einem Streik der Kaufleute, Studenten und Arbeiter der ausländischen Betriebe den Imperialismus anzugreifen. Um den ab 1. Juni ausgerufenen Generalstreik von 200000 Arbeitern zu koordinieren, wurde eine Zentralgewerkschaft gebildet. Die Streikenden verlangten den Rückzug der ausländischen Truppen und die Rückgabe der internationalen Konzession an China. Nachdem britische und japanische Sicherheitskräfte bereits zahlreiche Menschen ermordet hatten, gingen am 3. Juni US-amerikanische und italienische Marineinfanteristen an Land. Schanghai, schrieb die kommunistischen Presse, wurde zum »Schlachthof des modernen Imperialismus«.

Wachsende Organisierung

Solange sich Warenboykott und Streik gegen ausländische Betriebe richteten, profitierte die chinesische Großbourgeoisie davon. Doch als in britischem Besitz befindliche Elektrizitätswerke die Stromzufuhr zu den chinesischen Fabriken unterbrachen, knickte die Handelskammer ein und beendete ihre Unterstützung der streikenden Arbeiter. Die heimische Bourgeoisie war nicht willens, gegen die Imperialisten zu kämpfen, sie wollte lediglich als gleichberechtigter Handelspartner anerkannt werden. Mit Zugeständnissen wie dem Versprechen, China ab 1929 die Zollhoheit zurückzugeben, gelang es den ausländischen Mächten, die antiimperialistische Front zu spalten und die chinesische Großbourgeoise zunehmend in die internationale Handelsoligarchie einzubinden. Im Gegenzug ließen chinesische Behörden die Zentralgewerkschaft verbieten und am 17. Dezember Liu Hua, den wichtigsten kommunistischen Organisator der Streikbewegung, hinrichten.

Ende September brach der Streik in Schanghai ab. Doch inzwischen hatte die Bewegung auf das von der chinesischen Nationalregierung beherrschte Kanton übergegriffen. Nachdem die Fremdenpolizei am 23. Juni mehr als 50 Demonstranten an der anglo-französischen Niederlassung auf der Insel Schameen erschossen hatte, traten auch die Kantoner Arbeiter in den Ausstand. Am stärksten war die Reaktion in der britischen Kronkolonie Hongkong. Wegen einsetzender Massenrepression gegen die Arbeiterbewegung verließen 50000 Arbeiter die Stadt und riegelten Hongkong vom Festland ab. Keimformen der Arbeitermacht traten ins Leben: Ein Streikdelegiertenrat wurde gebildet, bewaffnete Streikposten aufgestellt und eine eigene Gerichtsbarkeit geschaffen. Die Forderungen nach nationaler Selbständigkeit wurden mit dem Ruf nach Arbeiterschutzgesetzen und demokratischen Rechten verbunden. Im längsten Streik der Geschichte der chinesischen Arbeiterbewegung legten die Arbeiter Hongkong 16 Monate lang lahm. Hongkonger Arbeiter bildeten innerhalb der noch von Feudalgeneralen beherrschten Nationalarmee der Kantoner Regierung einen revolutionären Kern und verhalfen auch der Bauernbewegung durch Agitation auf den Dörfern zu einem Aufschwung.

Aufstieg der KP

Die Arbeiterbewegung war von der Phase der losen Assoziation zur organisierten Massenaktion übergegangen. Hauptgewinner war die trotz des offensichtlichen Verrats der Bourgeoisie weiterhin innerhalb der Nationalpartei Kuomintang arbeitende Kommunistische Partei Chinas. Von einer aus weniger als 1000 Mitgliedern bestehenden Propagandatruppe wuchs die KP bis November 1925 zu einer in der Arbeiterbewegung verankerten Kraft von

10000 Militanten an. »Nach der Bewegung des 30. Mai hat sich die revolutionäre Welle zu einer Flut gesteigert und die große chinesische Revolution von 1925 bis 1927 geformt«, schrieb der Kommunist Deng Zhongxia. Wie verhängnisvoll die auf Druck der Kom-intern fortgeführte Arbeit innerhalb der Nationalpartei war, zeigte sich schon im März 1926, als Kuomintang-Führer Tschiang Kaischek in Kanton gegen die Kommunisten putschte, sie aus allen Parteifunktionen verdrängte und ihre Führer verhaften ließ.

Quellentext. »Moskauer Geist« – Leo Trotzki in der Iswestija vom 6. Juni 1925

Den ermordeten Arbeitern und Studenten von Schanghai zum Gedächtnis

Die Times, die führende Zeitung der englischen Bourgeoisie, schreibt, daß die Bewegung der chinesischen Volksmassen ganz nach dem »Moskauer Geist« rieche. [...] Wir Moskauer sind bereit, alle diese Anschuldigungen und Entlarvungen zu akzeptieren. Doch wir wollen hinzufügen, daß es die kapitalistischen Politiker und Journalisten sind, die am meisten für die Verbreitung des »Moskauer Geistes« im Osten tun. Wenn der unwissende chinesische Kuli fragt, was ein Bolschewik sei, dann antwortet ihm die englische bourgeoise Presse: ein Bolschewik, das ist der chinesische Arbeiter, der nicht will, daß japanische und englische Polizisten auf ihn schießen; ein Bolschewik, das ist der chinesische Student, der dem blutüberströmten chinesischen Arbeiter die brüderliche Hand reicht; ein Bolschewik, das ist der chinesische Bauer, der sich nicht damit abfindet, daß auf seinem Land ausländische Gewalttäter schalten und walten. So eine hervorragende Definition des Bolschewiken liefert die reaktionäre Presse beider Hemisphären! [...]

Um die Ereignisse von Schanghai zu »regeln« und um »Moskau« entgegenzuwirken, propagieren Liberale und Menschewiken die Idee einer internationalen Konferenz zur chinesischen Frage, wobei sie die Augen vor der Tatsache verschließen, daß auf dieser Konferenz dieselben Gentlemen den Ausschlag geben, auf deren Befehl hin in Schanghai auf Arbeiter und Studenten geschossen wird. Vielleicht hat MacDonald ein fertiges Programm für diese Konferenz? Wenn nicht, dann könnten wir ihm das unsrige ausleihen. Es ist sehr einfach. Das chinesische Haus gehört den Chinesen. Eintreten in dieses Haus darf nur, wer zuvor an die Tür geklopft hat. Der Hausherr hat das Recht, nur den Freund einzulassen und denjenigen fortzujagen, den er für seinen Feind hält. Das wäre zunächst einmal unser Programm. Sie werden es ablehnen, weil es für ihren Geschmack zu sehr vom aufrührerischen »Moskauer Geist« durchdrungen ist. Doch gerade deshalb wird es jedem unterdrückten Chinesen und jedem ehrlichen englischen Arbeiter ins Bewußtsein dringen. In diesem Programm steckt eine ungeheure Kraft. Unter seinem Banner sterben die Arbeiter und Studenten von Schanghai. Ihr Blut, das von Schanghais Pflaster dampft, wird die Massen mit dem »Moskauer Geist« infizieren. Dieser Geist wird überall eindringen und unbesiegbar sein. Er wird die ganze Welt erobern, indem er sie befreit.

* In: Trotzki Schriften, Band 2.1., Hamburg 1990, 82 ff.

 

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Ausdruck erstellt am 27.05.2005 um 23:33:59 Uhr

 

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