Die Todesnacht in Stammheim

 

Neue Veröffentlichung erschüttert offizielle Darstellung schwer

 

Nick Brauns

 

In der Nacht auf den 18. Oktober 1977 stürmte die Polizeispezialeinheit GSG 9 im Mogadischu die von einem palästinensischen Kommando entführte Lufthansamaschine „Landshut“.  Durch die Flugzeugentführung sollten Gefangene der Roten Armee Fraktion RAF aus deutschen Gefängnissen freigepresst werden. Laut offizieller Darstellung  sollen daraufhin die in im 7. Stock der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim unter Kontaktsperre stehenden Führungsköpfe der RAF Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller kollektiven Selbstmord beschlossen haben. Baader und Raspe starben durch Schussverletzungen, Ensslin wurde erhängt in ihrer Zelle aufgefunden. Möller überlebte trotz schwerer Stichverletzungen und bestreitet bis heute den Selbstmord.  Auf Veranlassung des Bonner Krisenstabes verschickte die Deutsche Presseagentur um 8.53 Uhr noch vor Beginn der kriminaltechnischen und gerichtsmedizinischen Ermittlungen die Eilmeldung: „baader und ensslin haben selbstmord begangen.“ Diese Mitteilung legte die Richtung fest, der die Ermittler und die meisten Medien folgten. Dagegen schlossen  die Verteidiger der RAF-Gefangenen Otto Schily, Hans-Christian Ströbele und Karl-Heinz Weidenhammer damals einen staatlichen Mord nicht aus. Doch seitdem sei diese Mordthese „jenseits von Sekten“ nie politisch wirkungsmächtig geworden, behauptete Jan Philipp Reemtsma vor einigen Jahren in einem Interview mit der taz und verglich dabei die Anhänger der Mordthese mit Menschen, die Zweifel an der Echtheit der Mondlandung hegten. Modifizierung hat die Selbstmordthese in den letzten Jahren lediglich in der Form erhalten, dass nun von einem „Selbstmord unter staatlicher Aufsicht“ gesprochen wird. In seinem vielfach als Standartwerk gehandelten Buch „Baader Meinhof Komplex“ und dem daran orientierten Film vertritt auch Stefan Aust die Selbstmordlegende. Mit diesem als Urlaubslektüre erwählten Buch wurde 2007 zum 30.Jahrestag des „Deutschen Herbst `77“ das Interesse von Helge Lehmann – bis dahin nach eigener Aussage eher unpolitischer IT-Spezialist – an der Thematik geweckt. Austs Buch kam Lehmann sehr unglaubwürdig vor. So gab es keine Fußnoten oder Quellenangaben, um die gewagten Thesen zu belegen. Ausgehend von den damals entstandenen Zweifeln und offenen Fragen ist innerhalb der letzten fünf Jahre eine Untersuchung entstanden, die die staatsoffizielle Darstellung ein für alle Mal in ihren Grundfesten erschüttern könnte. Tatkräftige Hilfe erhielt Lehmann von Olaf Zander, der unter anderem als regelmäßiger Beobachter politischer Prozesse schon länger mit der Thematik staatlicher Repression befasst ist.

 

Konsequente Sachlichkeit statt Spekulation

Das Buch „Die Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung - Indizienprozess gegen die staatsoffizielle Darstellung und das Todesermittlungsverfahren“ unterscheidet sich von den ja durchaus vorliegenden sonstigen  Untersuchungen, die der staatsoffiziellen Darstellung nicht folgen wollen, durch seine konsequente Sachlichkeit. Mord oder Selbstmord ist hier keine Glaubensfragen und schon gar keine Frage des politischen Bekenntnisses. Auch von Spekulationen oder Verschwörungstheorien hält sich Lehmann fern. Stattdessen hat er die offensichtlichsten Fragen zusammen gestellt, die offizielle Darstellung dazu angesehen, in der Sekundärliteratur nach Antworten gesucht und parallel in verschiedenen Archiven Akten durchforstet. 2007 endete die 30-jährige Sperrfrist für Aktenmaterial zur RAF aus dem Jahr 1977 in den Bundes- und Landesarchiven. Durch die Öffnung der Akten war es Lehmann möglich, auf bisher nicht zugängliche Gutachten, Obduktionsberichte und Aussagen zuzugreifen, die teilweise auch auf einer dem Buch beiliegenden CD veröffentlicht sind. In diesem kriminalistischen Herangehen wurden Aussagen, Gutachten und Untersuchungsberichte zerpflückt und abgeglichen und mit den gelesenen Büchern verknüpft. Aus diesem „Puzzle“ entwickelte sich ein Indizienprozess, der zwei Sachverhalte auf die Anklagebank verwies: „Die offizielle Darstellung“ und „das Todesermittlungsverfahren“. Um einzelne Indizien standfest zu untermauern mussten verschiedene Experimente und Testaufbauten folgen, deren Grundlage die nun einsehbaren Gutachten waren. Teile der Akten aus dem Krisenstab, Teile der Handakte Bux zur Abhöraffäre, Akten über die GSG 9 und Akten des BKA werden allerdings weiterhin als „streng geheim“ eingestuft. Lehmann wurde mitgeteilt, dass die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bei Akteneinsicht gefährdet sei.

Laut der auf Aussagen des Kronzeugen Volker Speitel basierenden offiziellen Darstellung sollen die Pistolen, durch die Baader und Raspe starben, von Anwälten an allen Kontrollen vorbei in manipulierten Handakten in den Hochsicherheitstrakt des Stammheimer Gefängnisses geschmuggelt und dort von den RAF-Gefangenen in einem Plattenspieler und einer in den Beton gekratzten Wandnische verborgen worden sein. Dass diese These – für die sogar zwei Anwälte verurteilt wurden – nicht der Wahrheit entsprechen kann, zeigt Lehmann auf mehrfache Weise. So hat er eine Akte entsprechend der Aussage von Speitel für ein Waffenversteck präpariert. Wie er nachweist, springt selbst einem Laien dieses Versteck entgegen, wenn man die Akte zu Kontrollzwecken durchblättert.

 

 

Nicht geklärte Transportwege

 

Weiterhin hat er die Aussagen von über 30 Beamten unter anderem des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg über die Leibesvisitationen der Anwälte und die Durchsuchungen der Akten systematisch ausgewertet. Speitel behauptete, dass eine Vielzahl von verbotenen Gegenständen von den Anwälten in manipulierten Akten zu den Häftlingen im 7. Stock gelangt sei: drei Handfeuerwaffen, neun Stangen Sprengstoff, eine Minox-Kamera, Radios, eine Unmenge von Kleinkram und sogar eine Kochplatte. Doch außer einer Heizstrebe aus einem Toaster wurde bei den zahlreichen Zellendurchsuchungen nie etwas gefunden. Schließlich kam sogar der Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags zu dem Ergebnis, dass der Weg der Waffen in die JVA „nicht geklärt“ ist.

Widerlegt wird durch Lehmann die staatsoffizielle Darstellung, wonach die RAF-Gefangenen über die Gefängnislautsprecheranlage und Teile von Radios in ihren Zellen ein Kommunikationssystem geschaffen hätten, über das sie auch den Selbstmord verabredeten. Dass ein solches Kommunikationssystem nicht funktionieren konnte, ergibt sich für Lehmann aus der Auswertung der vorgefundenen elektronischen Bauteile, die in einem gerichtlichen Gutachten alle aufgeführt werden. In einem Testaufbau weist er nach, dass mit diesen Bauteilen keine funktionierende Kommunikationsanlage aufgebaut werden konnte. Es fehlten Kabel und benutzbare Mikrofone und in einer nicht belegten Zelle war die Verbindung der Radioleitung zur nächsten Zelle unterbrochen. Anders als in dem Gutachten behauptet, ist die Tonqualität sehr schlecht, wenn Boxen als Mikrofone dienen. Auch Klopf- bzw. Morsezeichen fallen aus, weil die Leitung zwischen den Zellen ja an einer Stelle unterbrochen war und diese Signale nicht alle vier Häftlinge erreicht hätten.

Lehmann widmet sich auch dem ominösen Sand an Baaders Schuhen, der Peter Schneider bereits 1978 zum Titel eines Kursbuch-Beitrages inspirierte. Mehrfach war kolportiert worden, dass dieser Sand aus Mogadischu stammen könnte – als Beweis, dass die RAF-Gefangenen für einen möglichen Geiselaustausch dorthin geflogen worden waren. An derartigen Verschwörungstheorien beteiligt sich Lehmann nicht. Eine Mogadischu-Reise scheidet für ihn schon aus Zeitgründen aus. Doch merkt er kritisch an, dass die Anhaftungen an den Schuhen des toten Baader erst sechs Monate nach der Todesnacht untersucht wurden, als das Todesermittlungsverfahren bereits seit drei Wochen eingestellt war. Bodenproben vom 7. Stock der JVA Stammheim wurden erst drei Monate nach der Todesnacht entnommen. Zu diesem Zeitpunkt war die III. Abteilung im 7. Stock, in der die RAF-Mitglieder inhaftiert waren, bereits komplett renoviert, nicht tragende Wände aufgestemmt und entfernt und der Estrich heraus genommen worden. So war ein aussagekräftiges Gutachten nicht mehr möglich. Das Beispiel zeigt für Lehmann, wie fehlerhaft und oberflächlich ermittelt wurde. Weitere aufgezeigte Widersprüche beschäftigen sich mit der durch ein nun öffentliches Gutachten bestätigten Merkwürdigkeit, warum die Erschossenen keine Schmauchspuren an den Händen hatten, sowie der Frage, warum andere Häftlinge die tödlichen Schüsse nicht gehört hatten, obwohl keine Schalldämpfer in den Zellen gefunden wurden. Dass Schüsse auch im Stockwerk darunter hörbar gewesen sein müssten, weist Lehmann durch Aussagen anderer Häftlinge ebenso nach wie durch einen Testaufbau.

 

 

Gründe für den Verdacht des staatlichen Mordes?

 

Nur an einer Stelle, an der er internationale Strategien zur Aufstandsbekämpfung schildert, weicht Lehmann etwas von der Absicht ab, sich aller Spekulationen zu enthalten. Sicherlich ist es richtig, dass die USA die RAF nach Anschlägen auf US-Einrichtungen als Bedrohung ansahen und der Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, sich daher im September 1977 mit Bundeskanzler Helmut Schmidt in Deutschland traf. Bekannt ist ja durch die Aussagen beteiligter Politiker und Polizeivertreter, dass im „kleinen Krisenstab“ um Kanzler Schmidt durchaus Vergeltungsaktionen bis hin zur Wiedereinführung der Todesstrafe und der Erschießung der RAF-Gefangenen diskutiert wurden. Doch wäre es wirklich nötig gewesen, in Zusammenhang mit der Couterinsurgency die berüchtigte Bilderberg-Konferenz und die Trilaterale Kommission zu nennen? Sicher sind die Bilderberger für Lehmann keine „Weltregierung“, sondern eine Möglichkeit  für hochrangige Politiker, Vertreter wichtiger Medienkonzerne, der verschiedenen Geheimdienste und großer Unternehmen, sich zwanglos und ohne Protokoll auszutauschen – auch zum Umgang mit „Terroristen“. Aber für die gestellten Fragen zur Stammheimer Todesnacht und dem Todesermittlungsverfahren helfen die Bilderberger nicht wirklich weiter. An dieser Stelle zeigt sich allerdings auch, wie der durch seine Ermittlungen zunehmend politisierte Autor Lehmann anfängt, nach dem „Warum“ für den ungeheuren Verdacht eines unter Ausschaltung demokratischer Mechanismen ermöglichten staatlichen Mordes in der Bundesrepublik zu fragen.

Gegenüber dem Rezensenten äußerte sich Lehmann abschließend: „Ich beschreibe in meinem Buch, dass es diverse Indizien gibt, die eine Fremdeinwirkung nicht ausschließen. Es ist dem äußerst lückenhaften, widersprüchlichen und einseitig die Richtung „Selbstmord“ verfolgendem  Todesermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft anzulasten, dass hier bisher keine Klarheit besteht. Ich spiele hier weder den Richter noch stelle ich Spekulationen über einen Mord an. Auch wenn die Indizienpunkte gegen die staatliche Darstellung und deren populäre Verbreitung in Büchern, Fernsehdokumentationen und Spielfilmen erdrückend sind, der Leser als Richter wird sich seine Meinung bilden und über ein Urteil selbst entscheiden.“

Die Akten zum Baader-Meinhof-Komplex werden wohl weiter geschlossen bleiben. Doch angesichts der öffentlich geäußerten Freude von Bundeskanzlerin Angela Merkel über die ohne Gerichtsverfahren erfolgte Tötung Osama Bin Ladens durch ein US-Kommando in Pakistan ist die Frage nach staatlich legitimiertem Mord keineswegs eine Frage der Vergangenheit. Helmut Schmidt, Franz-Josef Strauß und andere Spitzenpolitiker hatten im „Deutschen Herbst 1977“ wenigstens noch so viel Takt, keine öffentliche Freude über den Tod der RAF-Gefangenen erkennen zu lassen.

 

è www.todesnacht.com

 

Helge Lehmann: Die Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung

Indizienprozess gegen die staatsoffizielle Darstellung und das Todesermittlungsverfahren

Unter Mitwirkung von Olaf Zander

Pahl-Rugenstein Bonn 2011, 237 Seiten, 19,90 €,

 

erschien in: Die Rote Hilfe 3.2011