junge Welt vom 22.10.2005 Wochenendbeilage
Nick Brauns
Vor 100 Jahren erlebte das deutsche Kaiserreich das größte
Streikjahr seiner Geschichte. Gleichzeitig beherrschte die Frage des
politischen Massenstreiks die theoretische Debatte innerhalb der deutschen
Arbeiterbewegung.
Es begann im Januar mit einem Streik gegen die von Stinnes befohlene
Arbeitszeitverlängerung in der Bochumer Zeche »Bruchstraße«. Schnell griff der
Ausstand auf andere Schächte über, bis 215000 Bergleute die Arbeit niedergelegt
hatten. Ihr Kampf wurde deutschlandweit und im Ausland durch
Solidaritätsstreiks, Kundgebungen und Geldspenden unterstützt. Dennoch brachen
die rechten Gewerkschaftsführer den bis dahin größten Ruhrbergbaustreik am 9.
Februar ergebnislos ab. Es folgte ein Streik der Former in der Kleinstadt
Velbert, der von den Unternehmern mit einer 157tägigen Aussperrung aller rund
1200 gewerkschaftlich organisierten Arbeiter beantwortet wurde. Auch 25000
Maschinenarbeiter in mehreren bayerischen Städten wurden für 45 Tage
ausgesperrt. In Berlin reagierten die Unternehmer im September und Oktober nach
einem Streik von 750 Arbeitern mit der wochenlangen Aussperrung von 35000
Beschäftigten der Elektroindustrie. Zu großangelegten Aussperrungen von
Zehntausenden Textilarbeitern kam es auch in Sachsen und Thüringen.
Insgesamt registrierte die Generalkommission der Gewerkschaften 2323 Streiks
und Aussperrungen mit 507 964 Betroffenen. Jeder Dritte der 1,43 Millionen
gewerkschaftlich organisierten Arbeiter hatte sich demnach 1905 aktiv am Kampf
beteiligt.
Von Rußland lernen
Auf die zunehmende Dichte von Arbeitskämpfen reagierten die Gewerkschaften
mit weiterer Zentralisation ihrer Organisation. Gleichzeitig erstarkte die
Tendenz, offenen und verlustreichen Kämpfen zugunsten von
Kompromißvereinbarungen mit den Unternehmern aus dem Weg zu gehen.
Politische Streiks lehnten die Gewerkschaftsführer grundsätzlich ab.
»Generalstreik ist Generalunsinn«, erklärten sie. Die Gewerkschaftsbürokratie
fürchtete im Falle einer Machtprobe mit dem Staat die Zerschlagung der
Organisation oder mindestens den Verlust der Streikkassen. Auf dem Kölner
Gewerkschaftskongreß im Mai 1905 wurde eine Resolution verabschiedet, in der es
hieß: »Der Kongreß hält daher auch alle Versuche, durch die Propagierung des
politischen Massenstreiks eine bestimmte Taktik festlegen zu wollen, für
verwerflich.« Dieser Beschluß stieß in zahlreichen Gewerkschaftsgliederungen
auf Widerspruch. Unterstützung fand er dagegen bei rechten Sozialdemokraten wie
dem Juristen Wolfgang Heine, der den Massenstreik laut Strafgesetzbuch für
illegal erklärte.
Auch innerhalb der SPD war der Gedanke eines politischen Generalstreiks
lange Zeit als »anarchistisches Abenteurertum« verschrien. Neue Nahrung erhielt
die Massenstreikdebatte 1905 durch die Erfahrungen der russischen Revolution.
Diese unterschied sich von früheren Revolutionen durch das Auftreten großer
Volksmassen mit der typischen Waffe des Proletariats, dem Streik. Einem Streik
von Millionen, nicht mehr allein für Lohn und Brot, sondern für große
politische Ziele.
»Die Gewerkschaft darf nicht zum Selbstzweck und dadurch zum Hemmschuh für
die Bewegungsfreiheit der Arbeiter werden«, warnte Rosa Luxemburg. »Lernen Sie
einmal aus der russischen Revolution! Die Massen sind in die Revolution
getrieben, fast keine Spur von gewerkschaftlicher Organisation, und sie
festigen jetzt Schritt für Schritt ihre Organisation durch den Kampf. Es ist
eben eine ganz mechanische undialektische Auffassung, daß starke Organisationen
dem Kampfe immer vorausgehen müssen. Die Organisation wird auch umgekehrt
selbst im Kampf geboren, zusammen mit der Klassenaufklärung.«
Die Massenstreikdebatte stand auch im Mittelpunkt des Jenaer Parteitags der
SPD vom 17. bis 23. September. Die Mehrheit des Parteivorstandes lehnte zwar
den Generalstreik als Vorstufe zur sozialen Revolution strikt ab. Doch einige
reformistische Politiker wie Eduard Bernstein und Kurt Eisner sahen im
politischen Massenstreik ein probates Mittel, das stets bedrohte allgemeine
Wahlrecht zum Reichstag zu verteidigen und unter Umständen dieses Wahlrecht für
die Landtage zu erobern.
Eine praktische Frage
Der politische Massenstreik sei »nicht bloß eine theoretische, sondern auch
eine eminent praktische Frage nach einem Kampfmittel, das gegebenenfalls
angewendet werden soll und muß«, betonte der SPD-Vorsitzende August Bebel.
Vertretern des marxistischen Zentrums erschien der Generalstreik als
Alternative zum gefürchteten Barrikadenkampf. So beschloß der Parteitag, im
Falle eines Anschlages auf das Wahl- oder Koalitionsrecht »die umfassendste
Anwendung der Massenarbeitsniederlegung« als »eines der wirksamsten
Kampfmittel, um ein solches politisches Verbrechen an der Arbeiterklasse
abzuwehren oder um sich ein wichtiges Grundrecht für ihre Befreiung zu
erobern«.
Während die Parteirechte die Bilder blutiger, von der Führung nicht mehr zu
kontrollierender Aufstände an die Wand malte, stellten sich viele Verteidiger
des Massenstreikgedankens eine Aktion vor, die ordnungsgemäß von der Partei-
und Gewerkschaftsführung beschlossen und nach festgesetzten Regeln von einer
straff disziplinierten Armee der Arbeiter durchgeführt wird.
Rosa Luxemburg war vom beschränkten, schablonenhaften Geist der Debatte tief
enttäuscht. In ihrer im folgenden Jahr verfaßten Broschüre »Massenstreik,
Partei und Gewerkschaften« schrieb sie: »Mit einem Wort: der Massenstreik, wie
ihn uns die russische Revolution zeigt, ist nicht ein pfiffiges Mittel,
ausgeklügelt zum Zwecke einer kräftigeren Wirkung des proletarischen Kampfes,
sondern er ist die Bewegungsweise der proletarischen Masse, die
Erscheinungsform des proletarischen Kampfes in der Revolution.«
Quellentext: Rosa Luxemburg, »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften«
(...) Statt des starren und hohlen Schemas einer auf Beschluß der höchsten
Instanzen mit Plan und Umsicht ausgeführten, trocknen politischen »Aktion«
sehen wir ein Stück lebendiges Leben aus Fleisch und Blut, das sich gar nicht
aus dem großen Rahmen der Revolution herausschneiden läßt, das durch tausend
Adern mit dem ganzen Drum und Dran der Revolution verbunden ist.
Der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist eine so
wandelbare Erscheinung, daß er alle Phasen des politischen und ökonomischen
Kampfes, alle Stadien und Momente der Revolution in sich spiegelt. Seine
Anwendbarkeit, seine Wirkungskraft, seine Entstehungsmomente ändern sich
fortwährend. Er eröffnet plötzlich neue, weite Perspektiven der Revolution, wo
sie bereits in einen Engpaß geraten schien, und er versagt, wo man auf ihn mit
voller Sicherheit glaubt rechnen zu können. Er flutet bald wie eine breite
Meereswoge über das ganze Reich, bald zerteilt er sich in ein Riesennetz dünner
Ströme; bald sprudelt er aus dem Untergrunde wie ein frischer Quell, bald
versickert er ganz im Boden. Politische und ökonomische Streiks, Massenstreiks
und partielle Streiks, Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks, Generalstreiks
einzelner Branchen und Generalstreiks einzelner Städte, ruhige Lohnkämpfe und
Straßenschlachten, Barrikadenkämpfe – alles das läuft durcheinander,
nebeneinander, durchkreuzt sich, flutet ineinander über; es ist ein ewig
bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen. Und das Bewegungsgesetz dieser
Erscheinungen wird klar: Es liegt nicht in dem Massenstreik selbst, nicht in
seinen technischen Besonderheiten, sondern in dem politischen und sozialen
Kräfteverhältnis der Revolution. Der Massenstreik ist bloß die Form des
revolutionären Kampfes, und jede Verschiebung im Verhältnis der streitenden
Kräfte, in der Parteientwicklung und der Klassenscheidung, in der Position der
Konterrevolution, alles das beeinflußt sofort auf tausend unsichtbaren, kaum
kontrollierbaren Wegen die Streikaktion. Dabei hört aber die Streikaktion
selbst fast keinen Augenblick auf. Sie ändert bloß ihre Formen, ihre
Ausdehnung, ihre Wirkung. Sie ist der lebendige Pulsschlag der Revolution und
zugleich ihr mächtigstes Triebrad. (...)
* Aus: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke Band 2, S. 124f.
-----------------------
Adresse: http://www.jungewelt.de/2005/10-22/028.php