Aus: schule & uni, Beilage der jW vom
16.05.2012
Studenten hinter Gittern
Der neoliberale Umbau des Bildungswesens geht in der
Türkei mit islamisch-konservativem Inhalt einher. Kritische Studenten werden
suspendiert oder gleich inhaftiert
Nick Brauns
»Wir werden
eine religiöse Generation erziehen«, hatte der türkische Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdogan als Ziel seiner
islamisch-konservativen Regierung angegeben. Für die Anhänger des türkischen
Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk stand einst der Bildungssektor im
Mittelpunkt der Anstrengung, aus der Türkei ein modernes, westliches Land
jenseits von religiösem Aberglauben und feudaler Rückständigkeit zu machen.
Dabei ist es den Kemalisten in den Jahrzehnten seit Gründung der Republik im
Jahr 1923 nicht gelungen, mit ihrer autoritär-laizistischen Erziehungsdiktatur
die Volksfrömmigkeit zu überwinden. Entsprechend setzt heute die AKP-Regierung
nach der erfolgreichen Ausschaltung ihrer kemalistischen Gegner im Staatsapparat
auf die Unterwerfung des Bildungssektors.
Prügel im Parlament
Dabei
bedient sie sich nach Meinung der kemalistischen Opposition auch faschistischer
Methoden. Oppositionsrechte wurden beschnitten, kemalistische Abgeordnete im Bildungsausschuß des Parlaments mit körperlicher Gewalt an
der Abstimmung gehindert, als die AKP im März eine Schulreform durchpeitschte.
Eine landesweite Großkundgebung der Bildungsgewerkschaft in Ankara wurde
verboten und die protestierenden Lehrer mit Panzerwagen und Gasgranaten
auseinandergetrieben. Durch die Reform werden die islamischen Imam-Hatip-Schulen mit Geschlechtertrennung, religiöser
Bekleidung und einem Schwerpunkt auf Koran- und Arabischunterricht
den laizistischen Gymnasien gleichgestellt. Da die letzten Jahre der
Schulpflicht nun im Fernstudium absolviert werden können, befürchtet die
Opposition eine Zunahme von Kinderarbeit und Verheiratung minderjähriger
Mädchen. Während die Masse der Jugendlichen so unter religiöser Knute zu
gehorsamen und frühzeitig für den neoliberalen Arbeitsmarkt verfügbaren Kräften
herangezogen werden soll, schicken die Eliten ihre Kinder auf Privatschulen der
islamisch-nationalistischen Fethullah-Gülen-Gemeinde,
die allerdings eine hochwertige naturwissenschaftliche Ausbildung bieten.
»Beweismittel« für Terror
Widerstand
gegen die AKP-Politik wird von staatlicher Seite schnell als »Terrorismus«
diffamiert. So befinden sich rund 700 Studenten aus politischen Gründen in
Untersuchungs- oder Strafhaft. Unter dem Motto »Hände weg von meinem Studenten«
haben Mitte April Hochschuldozenten mit Freiluftseminaren vor dem Tekirdag F-Typ-Gefängnis protestiert. Symbolisch war vor
dem von schwerbewaffneten Militärpolizisten gesicherten Gefängniseingang eine
Schultafel aufgestellt. »Wir sind hier wegen unserer gefangenen Studenten«,
erklärte Professorin Beyza Üstün von der technischen
Yildiz Universität Istanbul. »Das hier ist nicht ihr Platz, sie gehören ins
Klassenzimmer.« Den meisten inhaftierten Studenten
wird nach dem Antiterrorgesetz Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation
oder Propaganda vorgeworfen. Gewalttaten, die über das Werfen von Eiern
hinausgehen, werden dabei kaum einem von ihnen unterstellt. Als »Beweismittel«
für Terrorismus akzeptiert die Justiz schon das Zeigen von Bildern der
getöteten 68-er Studentenführer Mahir Cayan und Deniz
Gezmis, aber auch von Che
Guevara, das Tragen eines Palästinensertuches, den Besitz marxistischer
Klassiker oder die Teilnahme an Demonstrationen. So verurteilte ein Gericht in
Malatya Anfang Februar sechs Studenten zu Haftstrafen zwischen acht und 13
Jahren. Als Beweis ihrer angeblichen Mitgliedschaft in der verbotenen
marxistisch-leninistischen Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C)
wurde die Teilnahme an Demonstrationen zum 1. Mai und dem internationalen
Frauentag am 8. März sowie der Verkauf von Tickets für ein Konzert der
beliebten linken Band Grup Yorum
gewertet.
Subversive Muttersprache
Die
überwiegende Mehrheit der in Untersuchungshaft sitzenden Studenten sind Kurden.
Wie rund 7000 anderen kurdischen politischen Gefangenen einschließlich mehrerer
Abgeordneter und Bürgermeister wird ihnen Mitgliedschaft in einem Dachverband
der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen. Vielfach hatten
sich die bei landesweiten Razzien verhafteten Studenten zuvor an Kampagnen für kurdischsprachigen Unterricht beteiligt, was als Beweis
ihrer PKK-Unterstützung gewertet wird.
Im Mittelpunkt studentischer Proteste steht seit Jahrzehnten der nach dem
Militärputsch vom 12. September 1980 eingeführte Hochschulrat YÖK, der die
Universitäten der Kontrolle von Staatsbürokraten unterstellt. Hatten die
verbotenen Vorgängerparteien der im Jahr 2002 an die Macht gekommenen
islamisch-konservative AK-Partei noch in den 90er Jahren mit den studentischen
Protesten gegen den YÖK sympathisiert, so wurden inzwischen zwar die
kemalistischen Bürokraten durch islamische Kader ersetzt. Doch wie schon der kemalistisch besetzte YÖK ist auch der nunmehr islamisch
dominierte Hochschulrat eine treibende Kraft beim neoliberalen Umbau des
Universitätssektors. Und die aus dem Jahr 1985 stammenden und noch in den 90er
Jahren vor allem gegen islamische Studierende eingesetzten
Disziplinarverordnungen dienen heute zur Ausschaltung von AKP-Kritikern an den
Unis.
Vielfältige Repression
7500
Studierende sind zur Zeit aus unterschiedlichen
Gründen von den Universitäten suspendiert. 76 kurdische Studierende wurden
kürzlich von der Universität Bingöl entfernt, weil sie außerhalb des
Universitätsgeländes an einer Gedenkkundgebung für einen ermordeten
Kommilitonen teilgenommen hatten. Die Vielzahl von Gründen, die zum Ausschluß vom Studium führen können, hat der sozialistische
Abgeordnete Levent Tüzel aus Istanbul in einer
parlamentarischen Anfrage zusammengefaßt: »Wie viele
Studenten wurden in den vergangenen Zwei Jahren von ihren Universitäten
entfernt wegen Nichtbefolgen der Regeln des Hochschulrats oder des Rektors,
wegen Protesten gegen die Bildungspolitik der Regierung, den Bildungsetat, die
Beförderungsmittel sowie Wohnheim- und Mensakosten, wegen der Teilnahme an
Demonstrationen oder sonstigen Versammlungen, weil sie Mineralwasser, Gebäck
oder andere Nahrungsmittel mit in den Unterricht gebracht haben, wegen
Verteidigung ihres Rechts auf muttersprachlichen Unterricht, wegen Pfeifens, Halay-Tanzens, weil sie laute Musik in einer Gruppe hörten,
wegen des Tragens von Pusis (Palästinensertücher),
wegen Verteilung der politischen Zeitung Evrensel,
wegen Stehens auf einem Tisch am Campus, um Ankündigungen zu machen, wegen
Plakatierens oder Flugblattverteilens, wegen der Organisation von Treffen,
Konzerten, Podiumsdiskussionen, Filmpräsentationen und Lesereihen.«
Nick Brauns
ist promovierter Historiker. Als Journalist und Autor befaßt
er sich seit mehreren Jahren mit der Türkei und dem mittleren Osten, wohin er
auch zahlreiche Reisen unternahm.