Suche nach Gerechtigkeit
Strafanzeige gegen Ministerpräsident
Erdogan wegen Kriegsverbrechen
Von Nick Brauns
Als der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan anlässlich des 50. Jahrestag des
„Gastarbeiter“-Anwerbeabkommens im vergangenen November zum Staatsbesuch nach
Berlin kam, wurde er vor dem Auswärtigen Amt von Dutzenden kurdischen Demonstranten
mit Mörder-Rufen empfangen. Die mit einem Großaufgebot anwesende Polizei verbot
den Protestierenden dabei, Bilder von den Opfern türkischer Kriegsverbrechen zu
zeigen. Angebrachter wäre es gewesen, den Verantwortlichen für die darauf zu
sehenden Grausamkeiten dingfest zu machen. Denn gegen den türkischen
Ministerpräsidenten war pünktlich zu dessen Deutschlandreise eine selbst in den
Abend-Nachrichten des ZDF vermeldete Strafanzeige wegen Kriegsverbrechen und
Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Völkerstrafgesetzbuch eingebracht
worden. Im Bonner Pahl-Rugenstein-Verlag ist diese
vielbeachtete Strafanzeige unter dem Titel „Kriegsverbrechen der Türkei“ nun
vom „Verein für Demokratie und internationales Recht MAF-DAT“ als Buch
herausgegeben worden, um exemplarisch an Einzelbeispielen die grausame Realität
des über 30 jährigen schmutzigen Kriegs des türkischen NATO-Partners gegen
seine kurdische Bevölkerung aufzuzeigen und die Hintergründe zu beleuchten.
Grundlage der von den Hamburger Anwälten Britta Eder
und Heinz-Jürgen Schneider eingebrachten Anzeige gegen Erdogan sowie frühere
und amtierende Verteidigungsminister und Generalstabschefs der Türkei sind zehn
Verbrechen durch türkische Soldaten und Sicherheitskräfte wie extralegale
Hinrichtungen kurdischer Aktivisten, die Schändung von Leichen getöteter
Guerillakämpfer, Chemiewaffeneinsätze und Anschläge auf Zivilisten in den
kurdischen Landesteilen der Türkei zwischen dem Jahr 2003 und dem Sommer 2011.
Einzelschicksale zeugen von der Willkür und Brutalität der staatlichen Schergen
ebenso wie der Untätigkeit der türkischen Justiz gegenüber diesen Verbrechen.
So wurden am 21. November 2004 der unbewaffnete Ahmet Kaymaz
und sein 12-jähriger Sohn Ugur vor ihrem Haus in Mardin/Kiziltepe von Mitgliedern einer Sondereinheit der Polizei
grundlos durch eine Vielzahl von Schüssen getötet. Die Mörder in Uniform
beriefen sich auf „Notwehr“ und wurden freigesprochen. Der Guerillakämpfer
Abbas Amani geriet nach einem Gefecht am 26. August
2005 mit einer Schusswunde am Bein und unbewaffnet in Gefangenschaft, wie durch
Fotos belegt ist. Nach einem Verhör wurde er getötet. Der Autopsie ergab einen
„Schaden am Rückenmark nach Genickbruch und Eintritt des Todes durch Verlust
des Kreislaufs und der Atmung“. Die türkische Justiz stellte ein Verfahren
gegen die verantwortlichen Soldaten im Jahr 2009 mit der Begründung ein, Amani sei an seinen im Gefecht erlittenen Verletzungen
gestorben. Die 12-jährige Ceylan Önkol wurde am 28.
September 2009 beim Weiden von Schafen von einem Sprengkörper getötet.
Zeugenaussagen und ein gerichtsmedizinisches Gutachten legen nahe, dass ein Armeeangehöriger das eindeutig als
Zivilperson erkennbare Mädchen durch einen Schuss aus einem Granatwerfer tötete
und die Explosion nicht etwa – wie von Armeeseite behauptet – durch einen
Blindgänger erfolgte. Als
Unterzeichnerstaat des Chemiewaffen-Übereinkommens hat sich die Türkei
verpflichtet, keine derartigen Waffen einzusetzen. Doch der
Menschenrechtsverein IHD hat eine ganze Reihe solcher Kriegsverbrechen
dokumentiert. So setzte die türkische Armee im September 2009 gegen
Guerillakämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans PKK in einer Höhle bei Cukurca/Hakkari chemische
Kampfstoffe ein, durch die sechs PKK-Angehörige getötet wurden. Die leblosen
Körper wurden anschließend zum Teil mit einem Panzerfahrzeug überfahren. Eine
Menschenrechtsdelegation aus Deutschland hatte das Verbrechen im folgenden Jahr
in der Türkei nachrecherchiert und ihr zugespieltes Bildmaterial
veröffentlicht. Doch die türkischen Behörden halten die Obduktionsberichte und
Akten zu dem Fall bis heute geheim. Am 21. August 2011 griff ein türkisches
Kampfflugzeug vom Typ F-16 in der nordirakischen Kandilregion
zwei zivile PKW mit Raketen an. Dabei wurden drei erwachsene Zivilisten und
vier Kinder im Alter von sechs Monaten bis zu 11 Jahren getötet. Im
Zusammenhang mit den regelmäßigen Luftangriffen auf mutmaßliche
PKK-Guerillacamps in den Kandil-Bergen kam es zudem
zu erheblichen Schäden an ziviler Infrastruktur und der Vertreibung der Bevölkerung
aus ihren Dörfern. Unter den Anzeigestellern gegen Erdogan befinden sich neben
den Angehörigen der kurdischen Opfer auch der Bundestagsabgeordnete Harald
Weinberg und die Nürnberger Stadträtin der Linkspartei Marion Padua, die im
Juni 2011 als Wahlbeobachter in der kurdischen Stadt Sirnak
nur knapp einem offenbar von Sicherheitskräften zu verantwortenden
Bombenanschlag entgingen.
All diese durch Zeugenaussagen und Fotomaterial
dokumentierten Verbrechen sind nur die „Spitze eines Eisbergs, der zu Recht als
Staatsterror bezeichnet wird“, schreibt der Hamburger Völkerrechtler Norman Paech, der selbst zu den Anzeigeerstattern
gehört. Dies ist wohl wahr. So fanden zwei der grausamsten Verbrechen dieses
schmutzigen Krieges erst nach Erstattung der Anzeige statt beziehungsweise
wurden erst danach bekannt. So wurden 34 Dorfbewohner im türkisch-irakischen
Grenzgebiet bei Uludere/Sirnak
am 28. Dezember 2011 bei einem Luftangriff zerfetzt. Den Armeeposten in der
Region war bekannt, dass es sich bei den zum Teil minderjährigen jungen Männern
um unbewaffnete Zivilisten handelte, die im Grenzhandel tätig waren, und nicht
um bewaffnete Guerillakämpfer. Und Ende Februar 2012 wurde durch Aussagen
entlassener Gefangener gegenüber dem Menschenrechtsverein bekannt, dass Kinder
und Jugendliche im Jugendgefängnis von Pozanti bei
Adana jahrelang von erwachsenen kriminellen Mitgefangenen vergewaltigt und von
den Gefängniswärtern gefoltert wurden. Die junge Kurden waren im Zusammenhang
mit politischen Aktionen verhaftet und zu langjährigen Haftstrafen als
„Terroristen“ verurteilt worden, ihnen werden Steinwürfe auf Polizisten und die
Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen vorgeworfen. Die Journalistin,
die den Skandal ans Tageslicht gebracht hatte, wurde kurz darauf zusammen mit
weiteren Kollegen unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen
Vereinigung selber inhaftiert.
„Wo Krieg herrscht sind Kriegsverbrechen an der
Tagesordnung“, weiß Norman Paech. „Diese hässliche
Symbiose von Krieg und Verbrechen ist nicht neu, neu hingegen ist die
Möglichkeit, diese Verbrechen vor die Gerichte zu bringen und die Täter zur
Verantwortung zu ziehen.“ So ermöglicht das 2002 vom deutschen Gesetzgeber
beschlossene Völkerstrafgesetzbuch die Verfolgung schwerer Kriegsverbrechen
auch dann, wenn diese weder durch den Tatort noch durch Täter oder Opfer eine
Beziehung zu Deutschland haben. Dahinter stehe der Wille, die Kriegsführung
„mit allen Mitteln zu zivilisieren und humanisieren, ohne dabei auf die
kriegführenden Parteien angewiesen zu sein.“ Bei der Benennung Erdogans und seiner Generalstabschefs und
Verteidigungsminister als Verantwortliche für die angezeigten Verbrechen
stützen sich die Einreicher der Anzeige auf die völkergewohnheitsrechtlich den
Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) und des
Tribunals für die Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien anerkannte
Verantwortlichkeit militärischer Befehlshaber und ziviler Vorgesetzter an den
Taten ihrer Untergebenen. Dass Erdogan persönlich eine generelle
völkerstrafrechtsrelevante Vorgehensweise der Sicherheitskräfte angeordnet,
gebilligt und öffentlich gerechtfertigt hat, zeigt etwa seine Äußerung von Ende
März 2006, als es nach einem mutmaßlichen Chemiewaffeneinsatz gegen
Guerillakämpfer in ihrem Winterlager zu massiven Protesten in den kurdischen
Städten kam. „Ich wende mich an die Mütter und Väter. Diejenigen, die ihre
Kinder auf die Straße schicken, die erlauben, dass sie von Terrororganisationen
benutzt werden, wenn ihr morgen weint, wird es vergeblich sein. Auch wenn es
sich um Kinder oder Frauen handelt, wer auch immer, wer zum Instrument des
Terror wird, gegen den werden unsere Sicherheitskräfte eingreifen, wie es nötig
ist.“ Im Zusammenhang mit dieser Äußerung wurden fünf Kinder und drei
Jugendliche von Sicherheitskräften erschossen.
Ergänzt wird die
Strafanzeige durch die Darstellung der Hintergründe der kurdischen Frage
seit Ende des Ersten Weltkrieges. Mit dem Lausanner Abkommen von 1923 wurde von
den Großmächten und der kemalistischen Führung der Türkei über die Köpfe der
Kurden hinweg die Aufteilung ihres Siedlungsraums auf drei Staaten verfügt.
Kurz nach Gründung der türkischen Republik setzte dann eine Verleugnungs- und
Assimilationspolitik gegen nichttürkische Bevölkerungsgruppen ein,
Hunderttausende Kurden wurden in den 20er und 30er Jahren von der Armee
ermordet oder in andere Landesteile deportiert. Die einst allmächtige Rolle des
Militärs, das sich 1960, 71 und 80 an die Macht putschte und 1997 die gewählte
Regierung zum Rücktritt zwang, wird in der Hintergrunddarstellung ebenso
beschrieben, wie die von den Anzeigestellern als „Staatterrorismus“ definierte
Rolle des für unzählige Morde an Oppositionellen verantwortlichen „tiefen
Staates“ aus Geheimdienst, Konterguerilla und Mafia. Durch die sogenannte Ergenekon-Operation hat die seit 2002 alleine regierende
islamisch-konservative AKP von Ministerpräsident Erdogan die Armee inzwischen
entmachtet. Hunderte zum Teil hochrangige Offiziere einschließlich des früheren
Generalstabschefs Ilker Basbug, gegen den sich die
deutsche Strafanzeige wegen Kriegsverbrechen auch richtet, befinden sich heute
in Untersuchungshaft. Doch keiner der inhaftierten Militärangehörigen wird
wegen der in Kurdistan begangenen Kriegsverbrechen angeklagt. Sie werden
vielmehr beschuldigt, Putschpläne gegen die AKP geschmiedet zu haben. Von daher
ist das Ergenekonverfahren als Instrument eines
„Elitentausches im Sinne der AKP“ zu bewerten, die sich mit Hilfe der Gemeinde
des pensionierten Imam Fethullah Gülen längst ihren
eigenen islamischen „tiefen Staat“ in Polizei und Justiz geschaffen und die
einstige Macht des Militärs durch den Ausbau der Polizei zur Bürgerkriegstruppe
ersetzt hat. An beispielhaften Fällen zeigen die Autoren der Strafanzeige, wie
unter der von EU und Bundesregierung als demokratische Reformkraft hoffierten
AKP-Regierung grundlegende Rechte wie das Recht auf Leben, Freiheit und
Sicherheit der Person, das Recht auf freie Meinungsäußerung und
Religionsfreiheit sowie Frauen- und Kinderrechte weiterhin systematisch außer
Kraft gesetzt und mit Füssen getreten werden. Zu verweisen ist hierbei auf die
massenhafte Inhaftierung von mittlerweile fast 7000 zivilen kurdischen
Aktivisten und Politikern, darunter 31 Bürgermeistern und sechs
Parlamentsabgeordneten der Partei für Frieden und Demokratie sowie zahlreichen
Journalisten, Gewerkschaftern und Rechtsanwälten. Aufgrund ihrer
kommunalpolitischen Arbeit, ihrer Zeitungsartikel, ihrer Anwaltstätigkeit für
den gefangenen PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan, ihres Einsatzes für
Menschenrechte und Frauenrechte sowie eine friedliche Lösung der kurdischen
Frage wird ihnen Mitgliedschaft in einer
terroristischen Vereinigung vorgeworfen.
„Ziel dieser Strafanzeige und dieses Buches ist es,
bei der Suche nach Gerechtigkeit im Dickicht der Gesetze zu helfen wie ein
kleines Licht im Labyrinth“, schreibt Öcalans aufgrund türkischer Verfolgung in
Deutschland lebender Rechtsanwalt Mahmut Sakar im Nachwort. Sakars
Hoffnung, dass die zuständigen deutschen Justizbehörden zu dieser Suche nach
Gerechtigkeit beitragen werden, wurde mittlerweile enttäuscht. Die
Bundesanwaltschaft weigerte sich Anfang Februar 2012, die Ermittlungen
überhaupt einzuleiten und begründet dies ausschließlich mit formalen Gründen.
So wird dem türkischen Ministerpräsidenten entgegen der Rechtsprechung des
Internationalen Strafgerichtshofs und den Zielen des Völkerstrafrechts
„uneingeschränkte Immunität“ zuerkannt. Von einer Verfolgung des türkischen
Verteidigungsministers und des Generalstabschefs sieht die Bundesanwaltschaft
nach Paragraph 153f der Strafprozessordnung ab, da zu erwarten sei, dass sich
diese lediglich „auf amtliche Einladung der Bundesregierung im Bundesgebiet
aufhalten werden“. Ein solches Absehen von Verfolgung ist allerdings nur dann
möglich, wenn Deutsche weder als Täter noch als Opfer an den Taten beteiligt
sind. Dies war aber bei dem Granatenanschlag auf die Linksparteipolitiker der
Fall. Die Bundesanwaltschaft ignoriert zudem, dass sich einzelne Beschuldigten
regelmäßig auf der alljährlich Anfang Februar rechtlich als Privatveranstaltung
der Rüstungslobby firmierenden Sicherheitskonferenz in München aufhielten und
damit sehr wohl dem Zugriff der deutschen Strafverfolgung ausgesetzt sein
können. „Das Völkerstrafgesetzbuch wird
von der Bundesanwaltschaft zum Gesinnungsinstrument degradiert“, beklagen die
anzeigestellenden Anwälte. Zu Ermittlungen sei es bislang nur in
politisch opportunen Fällen gegen
Beschuldigten aus Afrikanischen Staaten oder Ex-Jugoslawien gekommen,
während Anzeigen gegen Politiker und Militärs aus Nato-Staaten wie den für das
Massaker am Kundus verantwortlichen Bundeswehroberst
Klein unter formalen Gesichtspunkten niedergeschlagen werden. „Die engen
deutsch-türkischen Beziehungen im Bereich Politik, Wirtschaft, Militär, Rüstung
und Sicherheit sind der offenbare Grund für die `schützende Hand´ gegenüber den
für Kriegsverbrechen Verantwortlichen“,
vermutet Rechtsanwältin Britta Eder und kündigte Einspruch gegen die „politisch
motivierte Ablehnung“ der Bundesanwaltschaft an. Auch wenn die Strafanzeige
vorerst abgelehnt ist, kann sie als gut dokumentiertes Buch dazu beitragen, ein
realistisches und nicht durch politische Rücksichtnahme verfälschtes Bild der
Situation in Kurdistan zu zeichnen. Denn wie Mahmut Sakar im Schlusswort
geschrieben hat: „Aber das Leben geht weiter. Genauso wie unsere Suche nach
Gerechtigkeit.“
Britta
Eder/Dr. Heinz-Jürgen Schneider:
„Kriegsverbrechen der Türkei – Strafanzeige nach dem Völkerstrafgesetzbuch
gegen Ministerpräsident Erdogan und die türkischen Generalstabschefs“;
Pahl-Rugenstein Verlag Bonn 2012,169 S., 12,90 Euro
ISBN 978-3-89144-501-3
Aus:
Kurdistan Report Nr. 161 Mai/Juni 2012