13.05.2006 / Ausland / Seite 15


Kolonialer Verrat

Im Sykes-Picot-Abkommen teilten Frankreich und Großbritannien vor 90 Jahren den Nahen Osten unter sich auf

Nick Brauns

Im kollektiven Gedächtnis der arabischen Völker ist das vor 90 Jahren zwischen Frankreich und Großbritannien geschlossene Sykes-Picot-Abkommen zu einem Synonym für koloniale Willkür des Westens geworden.

Gegen das mit Deutschland verbündete Osmanische Reich stachelten die Briten während des Ersten Weltkrieges eine arabische Unabhängigkeitsbewegung an. Der Hochkommissar des seit 1882 britisch besetzten Ägypten, Henry McHahon, sicherte dem Sheriff von Mekka, Hussein ibn Ali, die Anerkennung der arabischen Unabhängigkeit zu, wenn die Araber den Alliierten im Kriege beistanden. Doch während der britische Geheimagent Thomas Edward Lawrence, bekannt als Lawrence von Arabien, den Aufstand in der Wüste organisierte, bereiteten Briten und Franzosen schon den Verrat an ihren arabischen Verbündeten vor.

Künstliche Aufsplitterung

Das am 16. Mai 1916 unterzeichnete Geheimabkommen regelte die Teilung des Osmanischen Reiches in direkte und indirekte Herrschaftsgebiete Frankreichs, Großbritanniens und Rußlands. »Dann war da noch der phantasievolle Anwalt aller unerfüllten Weltbewegungen, Mark Sykes, auch er ein Bündel von Vorurteilen, Eingebungen und Halbheiten«, beschreibt T. E. Lawrence den britischen Unterhändler. Der ehemalige britische Militärattaché in Istanbul gehörte seit 1915 dem Kriegskabinett der konservativen britischen Regierung an. »Seine Ideen blieben an der Oberfläche; er besaß nicht die Geduld, sein Material zu prüfen, bevor er sich an den Entwurf des Bauwerks machte. … Seine Talente lagen im Komischen, seinem Geschmack nach war er mehr Karikaturist als Künstler, auch im Staatsmännischen.«

Der französische Unterhändler Charles Georges-Picot vertrat als Generalkonsul in Beirut die Wirtschaftsinteressen der Seidenindustrie von Lyon und der Handelskammer von Marseille sowie die religiösen Belange christlicher Kongregationen im Nahen Osten. Frankreich war durch sein wirtschaftliches Engagement sowie seine Bildungs- und Kulturpolitik so dominant in Syrien, daß von einem levantinischen »Frankreich des Ostens« die Rede war.

Syrien, Libanon und Südanatolien sowie die osmanische Ölprovinz Mossul wurden daher Frankreich zugestanden. Das Gebiet, das sich zwischen Südsyrien und dem späteren Irak sowie vom Persischen Golf bis Akaba und Gaza erstreckte, und die palästinensischen Häfen Akko und Haifa sollten dem britischen Einflußbereich zufallen. Für Palästina wurde unter dem Vorwand des Schutzes der heiligen Stätten ein britisch-französisches Kondominium vereinbart. Dem Kriegsverbündeten Rußland wurden anschließend Armenien und Nordkurdistan sowie Gebiete um Konstantinopel und damit Kontrolle über die Meerengen zugestanden.

Eine nationale Einigung der Araber wurde durch die künstliche Aufsplitterung des weitgehend homogen besiedelten arabischen Vierecks verhindert. Gebiete mit einer politisch bewußten Bevölkerung wie in Bagdad und Basra sollten als »Rote Zone« unter vollständige imperialistische Mandatsherrschaft ohne jegliche Selbstverwaltung gestellt werden. Der dem Sheriff von Mekka recht vage zugesagte unabhängige arabische Staat beschränkte sich auf ein Wüstengebiet im Bereich des heutigen Saudi-Arabien und Jemens mit einer politisch rückständigen Bevölkerung, ohne das fruchtbare Euphrat- und Tigrisbecken und ohne Meeranbindung. »Es war, als stecke man die Erwachsenen in die Schule und schicke die Schüler der ersten Klasse in die Welt hinaus«, urteilte der arabische Historiker George Antonius in seinem 1938 verfaßten Standardwerk »The Arab Awakening«.

Nach der Oktoberrevolution 1917 veröffentlichte Lenin das Sykes-Picot-Abkommen zusammen mit anderen Akten aus zaristischen Archiven. Gleichzeitig verzichtete Sowjetrußland auf alle darin enthaltenen Ansprüche Rußlands. Die jüngtürkische Militärjunta beeilte sich, das Dokument des Verrats im arabischen Raum bekanntzumachen. »Alles türkische Kriegspropaganda«, wurde Sheriff Hussein von britischer Seite beruhigt.

»Da ich kein Tor war, konnte ich ohne weiteres erkennen, daß im Falle unseres Sieges die den Arabern gemachten Zusagen nicht viel mehr als ein Fetzen Papier sein würden. Wäre ich ein ehrlicher Ratgeber gewesen, so hätte ich den Leuten raten müssen, nach Hause zu gehen und nicht länger ihr Leben für eine solche Gaukelei aufs Spiel zu setzen«, offenbart T. E. Lawrence den Zynismus des britischen Imperialismus, »Aber die arabische Bewegung war eines unserer Hauptwerkzeuge, um den Krieg im Osten zu gewinnen. Daher gab ich ihnen die Versicherung, daß England sein Wort dem Sinne und Buchstaben gemäß halten würde.« Lawrence von Arabien tröstete sich mit der Illusion, »die Araber so stark am Endsieg zu beteiligen, daß schon Zweckmäßigkeitsgründe die Mächte zu einer entgegenkommenden Regelung der arabischen Forderungen bestimmen würden«.

Neuaufteilung Palästinas

Schon bald stellten die Briten das Abkommen bezüglich Palästinas in Frage. Während britische Truppen das »Heilige Land« eroberten, wirkte Mark Sykes erfolgreich als Lobbyist der zionistischen Bewegung. Am
2. November 1917 sicherte der britische Außenminister Arthur James Balfour dem prominenten Zionisten Lord Edmond James Rothschild britische Unterstützung bei der Errichtung einer »nationalen jüdischen Heimstätte« in Palästina zu. Die Balfour-Deklaration ermöglichte es den Briten, in den Nachkriegsjahren gegenüber Frankreich ihren Anspruch auf Palästina durchzusetzen.

Auf der Konferenz von San Remo im April 1920 besiegelten Frankreich und Großbritannien die Aufteilung ihrer Einflußsphären. Syrien und Libanon wurden französisches Einflußgebiet, Palästina beiderseits des Jordan sowie der aus arabischen und kurdischen Provinzen neugeschaffene Staat Irak fielen an Großbritannien. Die gegen Aufstandsbewegungen in Syrien, dem Irak und Palästina blutig durchgesetzte imperialistische Nachkriegsordnung wurde durch Mandate des Völkerbunds ebenso sanktioniert, wie die weitere Zuwanderung zionistischer Kolonialsiedler nach Palästina.

Bis heute verhindern imperialistische Interessen die Aufhebung der willkürlich geschaffenen Grenzen und damit die ökonomische und politische Einigung des arabischen Nahen Ostens. So wurde der nach Besetzung des Irak 2004 von US-Präsident George W. Bush vorgestellte Greater Middle East Plan in der arabischen Welt zu Recht als neues Sykes-Picot begriffen.

 





Quellentext: Aus dem Sykes-Picot Abkommen vom 16. Mai 19161. Frankreich und Großbritannien sind bereit, innerhalb bestimmter Gebiete (die auf der beigegebenen Karte mit A und B bezeichnet wurden), einen unabhängigen arabischen Staat oder eine Konföderation arabischer Staaten anzuerkennen und zu schützen unter der Souveränität eines arabischen Oberhauptes. Frankreich habe in dem Gebiet A und Großbritannien in dem Gebiet B festgelegte Vorrechte.

2. Beiden Mächten soll es erlaubt sein, in diesen Gebieten direkte oder indirekte Verwaltung oder Kontrollen einzurichten, wie sie sie für notwendig halten in Zusammenhang mit den arabischen Staaten oder der arabischen Konföderation.

3. In dem auf der Karte braun eingetragenen Gebiet soll eine internationale Verwaltung eingerichtet werden, deren Art nach Verabredung mit Rußland und den anderen Alliierten noch festgesetzt werden soll.

4. Großbritannien werden die Häfen von Haifa und Akre zugesprochen, und ihm die Wasserversorgung vom Tigris und Euphrat über Gebiet A in B garantiert. Ohne vorherige Verständigung mit der französischen Regierung wird Großbritannien mit keiner dritten Macht in Verhandlungen betr. Abtretung Zyperns eintreten.

5. Alexandrette soll für den Handel des Britischen Empire Freihafen werden, entsprechend Haifa für den Handel Frankreichs, dessen Herrschaften und Protektorate; gleiches gilt für den Transithandel auf den Eisenbahnen beider Städte. (...)

7. Großbritannien hat das Recht zu bauen, zu verwalten und der einzige Eigentümer der Bahn zu sein, die Haifa mit dem Gebiet B verbindet; darüber hinaus hat es das bleibende Recht, zu jeder Zeit Truppen entlang dieser Linie zu transportieren. (...)

10. Die britische und die französische Regierung, als Schutzmächte der arabischen Staaten, stimmen darin überein, daß sie selbst keine territorialen Erwerbungen beabsichtigen und nicht zustimmen werden, daß eine dritte Macht auf der arabischen Halbinsel territoriale Besitzrechte erwirbt, noch Flottenbasen an der Küste oder auf den Inseln des Roten Meeres einrichtet. Eine Grenzberichtigung bei Aden ist davon ausgenommen.

11. Die Verhandlungen über die Grenzführung der arabischen Staaten oder der entsprechenden Konföderation sollen auf den bisherigen Wegen weiter fortgesetzt werden. (...)




Quelle: www.palaestina.org/landkarten/sykes_picot_abkommen.php