Junge Welt 03.05.2010 / Ausland / Seite 6


Den Taksim zurückerobert

Türkei: Gewaltige Maikundgebung mit Hunderttausenden Teilnehmern

Von Nick Brauns, Istanbul

 

Mit einer gewaltigen Mai-Kundgebung von bis zu 300000 Teilnehmern hat die türkische Arbeiterbewegung nach 33 Jahren Verbot ihre Rückkehr auf den Istanbuler Taksim-Platz gefeiert. In einem dreiarmigen Sternmarsch strömten die Mitglieder der sechs aufrufenden Gewerkschaftsdachverbände, der kemalistischen Oppositionspartei CHP, der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie BDP sowie zahlreicher sozialistischer Organisationen auf den Platz. Arbeiter des staatlichen Tabakmonopols Tekel, die im Winter monatelang gegen ihre privatisierungsbedingte Entlassung gekämpft hatten, führten den Zug des Gewerkschaftsdachverbandes Türk-Is an. Neben Vertretern internationaler Gewerkschaftsverbände waren insbesondere aus Deutschland Dutzende Gewerkschaftsaktivisten und Mitglieder der Linkspartei angereist.

Auf Transparenten waren Losungen zu lesen wie: »Ihr Mörder, euer 12.-September-Putsch kann uns nicht aufhalten. Wir sind nach 33 Jahren immer noch da«. 1977 hatten Scharfschützen der Konterguerilla das Feuer auf die Maikundgebung der Föderation Revolutionäre Arbeitergewerkschaften DISK auf dem Taksim eröffnet. 37 Menschen wurden damals getötet. Mit solchen Massakern wurde dem Militärputsch von 12. September 1980 der Weg bereitet. Seitdem war der Taksim für die Arbeiterbewegung gesperrt. In den letzten Jahren hatte es Straßenschlachten gegeben, als Gewerkschafter versuchten, auf den Platz zu gelangen. Die Polizei hatte auch dieses Jahr mit mehr als 22000 Beamten die Innenstadt von Istanbul in eine Festung verwandelt. Kilometerlange Sperrzäune säumten die Wege zur Kundgebung, jeder einzelne Teilnehmer wurde durchsucht.

Als Mustafa Kumlu, der Vorsitzende des größten türkischen Gewerkschaftsdachverbandes Türk-Is, die Eröffnungsrede halten wollte, begannen wütende Arbeiter Flaschen und Steine zu werfen. Kumlu, ein Mitbegründer der islamisch-konservativen AK-Regierungspartei und Vertrauter des Staatspräsidenten, hatte die Tekel-Arbeiter immer wieder im Regen stehen lassen, in dem er eine Ausweitung des Kampfes verhinderte. Tabakarbeiter, Feuerwehrmänner und andere aufgrund der staatlichen Privatisierungspolitik entlassene Staatsangestellte stürmten die Bühne und vertrieben Kumlu und weitere Türk-Is-Bürokraten, die sich über einen Sperrzaun in Sicherheit bringen mußten.

Als die Lage zu eskalieren drohte, ergriff Sami Evren, der Vorsitzende der Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KESK das Wort. In einer kämpferischen Rede beschwor er das Erbe der in den 70er Jahren ermordeten türkischen Revolutionäre Ibrahim Kaypakkaya und Mahir Cayan ebenso wie des im Gefängnis gestorbenen Mitbegründers der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, Mazlum Dogan. Evren forderte die vollständige Aufklärung des Taksim-Massakers von 1977 und aller anderen staatlichen Morde sowie eine friedliche Lösung der kurdischen Frage. Viel Applaus bekam auch der DISK-Vorsitzende Suleyman Celebi für seinen Vorschlag: »Dieser Platz sollte 1.-Mai-Platz heißen, weil ihn die Arbeiterklasse trotz Verbots am 1.Mai nie vergessen hat