junge Welt 25.08.2007 / Geschichte / Seite 15


Deutschland eingekreist

Durch Bildung der Triple-Entente vor 100 Jahren standen sich in Europa zwei imperialistische Blöcke gegenüber

Von Nick Brauns

Am 31. August 1907 unterzeichneten der russische Außenminister Alexander Petrowitsch Iswolski und der britische Botschafter Sir Arthur Nicolson in der russischen Hauptstadt St. Petersburg einen Vertrag mit weitreichenden Folgen. Auf dem Papier ging es nur um die Abgrenzung von Interessensphären beider Länder in Zentralasien. Doch da bereits seit 1894 ein Verteidigungsabkommen zwischen Rußland und Frankreich sowie seit 1904 die Entente Cordiale (franz.: herzliches Einverständnis) zwischen ­Großbritannien und Frankreich bestand, komplettierte der russisch-britische Vertrag das Bündnissystem, das als Triple Entente dem Dreibund aus deutschem Kaiserreich, Österreich-Ungarn und Italien gegenüberstand.

Aus Feind wird Freund


Noch während des russisch-japanischen Krieges 1904 herrschte Feindschaft zwischen Rußland und dem mit Japan verbündeten Großbritannien. »In der Tat war der englisch-russische Gegensatz in Asien um den Beginn des Jahrhunderts der stärkste weltpolitische Gegensatz der internationalen Situation«, analysierte Rosa Luxemburg später. »Die krachende Niederlage Rußlands im Jahre 1904 und der Ausbruch der Revolution änderten die Situation. Auf die sichtbare Schwächung des Zarenreichs folgte eine Entspannung mit England, die im Jahre 1907 sogar zu einer Abmachung über gemeinsame Verspeisung Persiens und freundnachbarliche Beziehungen in Mittelasien führte« (Gesammelte Werke, Berlin/DDR 1974, Bd. 4, S. 99). Zur Einigung beigetragen hatte die deutsche Politik im Nahen Osten. In London wie in St. Petersburg herrschte Beunruhigung über den wachsenden deutschen Einfluß im Osmanischen Reich. England und Rußland waren an der baldigen Aufteilung des »kranken Mannes am Bosporus« interessiert. »Der Weg zu den Dardanellen führt über die Leiche der Türkei, Deutschland betrachtete aber seit einem Jahrzehnt die ›Integrität‹ dieser Leiche für seine vornehmste weltpolitische Aufgabe«, beschrieb Rosa Luxemburg (a.a.o., S. 100.) den russisch-deutschen Antagonismus. Großbritannien wiederum sah durch die Bagdadbahn seine Interessen am Persischen Golf und den Landweg zu seiner Kolonie Indien bedroht.

Der Vertrag von Petersburg grenzte die britischen und russischen Interessensphären in Zentralasien voneinander ab. Das formell unabhängige, doch durch eine antifeudale Revolution innerlich geschwächte Persien wurde in eine nördliche russische, eine südöstliche britische und eine mittlere neutrale Zone aufgeteilt. Die Regierungen Englands und Rußlands verpflichteten sich, in der jeweils anderen Interessensphäre keine politischen oder kommerziellen Konzessionen zu erwerben und die andere Seite nicht an der Erwerbung solcher Konzessionen zu hindern. Das über die Köpfe der persischen Regierung hinweg geschlossene Abkommen enthielt das Recht der Kontrolle über die persischen Staatseinnahmen für den Fall, daß Persien mit Schuldenrückzahlungen an die russische Diskonto- und Darlehensbank oder die britische Imperial Bank of Persia in Rückstand käme. Weiterhin erkannte die Zarenregierung Afghanistan als »außerhalb ihres Einflusses fallend« an und verpflichtete sich, »in ihrem gesamten politischen Verkehr mit Afghanistan sich der Vermittlung der britischen Regierung zu bedienen« (Geschichte der Diplomatie, Bd. 2, Moskau 1947, S. 216.). Das Land am Hindukusch wurde somit von Rußland als britisches Protektorat anerkannt. Beide Vertragspartner versprachen, sich nicht in die inneren Angelegenheiten Tibets einzumischen, dessen territoriale Integrität nicht zu verletzen und nur durch Vermittlung der chinesischen Regierung, die die Lehnsoberherrschaft hatte, mit dem Lande zu verkehren.

»Man bereitet sich auf einen Krieg mit Deutschland vor«, charakterisierte Lenin die eigentliche Bedeutung des Petersburger Vertrages (Werke 39, S. 209). In Deutschland wirkte das Bündnis wie ein Schock. Schon die Beilegung langjähriger Differenzen zwischen Frankreich und Großbritannien über Kolonialinteressen im Nahen Osten und Nordafrika mit der Bildung der Entente Cordiale 1904 waren ein Wendepunkt in den diplomatischen Beziehungen Europas in der Neuzeit.

Kein fester Block


Mit dem Petersburger Vertrag fiel nun die als sicher geglaubte Konstante von der Unvereinbarkeit zwischen britischem Walfisch und russischem Bär in sich zusammen. »Wir haben gesehen, wie in den Jahren 1906 und 1907 das Schlagwort von einer ›Einkreisung‹ des Deutschen Reiches durch die Ententepolitik König Eduards immer mehr Glauben hinsichtlich seiner realpolitischen Wirklichkeit fand«, schrieb der alldeutsche Publizist Ernst Graf zu Reventlow. »Durch die Mittelmeerabkommen und das russische Abkommen schien der Kreis geschlossen zu sein.«

Tatsächlich handelte es sich bei der befürchteten Einkreisung um eine sich durch die rücksichtslose deutsche Außenpolitik selbst erfüllende Prophezeiung. 1907 war die neue Mächtegruppierung noch keineswegs ein festgefügter Bündnisblock, sondern setzte sich aus drei getrennten bilateralen Abkommen zusammen, von denen nur das französisch-russische eine Allianz war, während die beiden anderen lediglich Abmachungen über außereuropäische Fragen beinhalteten. Dazu kamen gegenseitige Animositäten zwischen den reaktionären Kreisen des Zarenhofs einerseits und französischen Republikanern sowie britischen Liberalen andererseits. Zur Belastungsprobe für die Entente kam es 1908, als Österreich-Ungarn die zum Osmanischen Reich gehörenden Gebiete Bosnien und Herzegowina annektierte, ohne daß Rußland die zuvor versprochene Kompensation durch Kontrolle über die Meerengen erhielt. Bis auf diplomatische Proteste ließen Großbritannien und Frankreich ihren Ententepartner im Stich. Doch die aggressive Politik des deutschen Imperialismus, seine Flottenhochrüstung und die zweite Marokkokrise 1911 führten schließlich zur Wandlung der Entente von ursprünglich negativ formulierten Kolonialverständigungen zum antideutschen Militärbündnis.

Quellentext. Der Sozialist Karl Radek über die Entstehung der Triple-Entente

Der deutsch-englische Gegensatz blieb also chronisch. Der deutsche Imperialismus begann ihn zuerst in der Türkei zu spüren, (...); aber bald überzeugte er sich, daß er ihm auch in Europa gefährlich werden konnte. Im Jahre 1904 einigte sich der englische Imperialismus mit dem französischen über die nordafrikanischen Fragen, nachdem es sich gezeigt hatte, daß von einem Übereinkommen mit Deutschland keine Rede sein konnte. Frankreich erkannte die Stellung Englands in Ägypten an, und England gab seine Zustimmung zu den marokkanischen Plänen Frankreichs. Dieses Übereinkommen leitete eine Verständigung der beiden Staaten ein, die die Schwächung des deutschen Imperialismus bezweckte. Die Verständigung war für den englischen und französischen Imperialismus um so nötiger gewesen, als die Niederlage Rußlands im Kriege mit Japan Deutschland von dem Druck an seiner östlichen Grenze befreit und seine Aktionskraft nach außen hin verstärkt hatte. Um sie im Zaume zu halten, begann England, das durch das Bündnis mit Japan vom Jahre 1912 von seinen ostasiatischen Sorgen befreit worden war und seine Kräfte gänzlich auf die Austragung des Gegensatzes zu Deutschland konzentrieren konnte, die Politik der Einkreisung Deutschlands. Zu diesem Zwecke schloß es auch mit Rußland, das nach der Niederlage in der Mandschurei und auf den Schlachtfeldern der Revolution England in Asien nicht mehr gefährlich war, ein Abkommen, in dem es Nordpersien als russische Einflußsphäre anerkennt.

Dieses Trinkgeld verhütete die Annäherung des geschwächten Rußlands an Deutschland und führte den Zarismus in die Arme Englands. So entstand die Tripel-Entente, als Gegengewicht zum Dreibund. Nun konnte sich England an die Arbeit machen. Es versuchte einerseits Rußland wegen der Balkanfrage in einen Konflikt mit Österreich zu verwickeln und andererseits den Gegensatz Frankreichs zu Deutschland zu vertiefen. Im ersten Falle konnte es zu einem Kriege zwischen Rußland und Österreich kommen, der Deutschland und Frankreich als Verbündete der beiden Staaten in Mitleidenschaft ziehen mußte. Das Resultat hätte, gleichviel auf wessen Seite der Sieg ausgefallen wäre, die Kräfte Deutschlands wenn nicht aufgerieben, so doch auf Jahre hinaus in Europa festgehalten.

Aus: Karl Radek: Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse, Bremen 1912, S. 41 f.