Junge Welt 29.10.2013
/ Thema / Seite 10
Verkaufte Unabhängigkeit
Vor 90 Jahren wurde die Republik Türkei ausgerufen.
Schon zu Lebzeiten von Staatsgründer Mustafa Kemal wurden dessen Prinzipien verraten
Von Nick
Brauns
Am Abend des
29. Oktober 1923 verkündete der Donner von 101 Kanonenschüssen die Gründung der
Republik Türkei. Die Große Nationalversammlung in Ankara wählte Mustafa Kemal
Pascha, der den Befreiungskampf gegen die von Großbritannien unterstützten
griechischen Okkupationstruppen zum Sieg geführt hatte und 1935 durch das
Parlament den Nachnamen »Atatürk« (Vater der Türken) verliehen bekam, zum
Präsidenten. Dessen Ziel war ein vollkommen unabhängiger und souveräner Staat,
der ebenso frei sein sollte von der religiösen, gesellschaftlichen und
politischen Rückständigkeit des Ostens wie von der politischen und
wirtschaftlichen Vorherrschaft des Westens.1 Schon die Verlegung der Hauptstadt
nach Ankara – damals ein Provinzstädtchen im Herzen Anatoliens –
versinnbildlichte den Bruch mit der durch Istanbul, seine Paläste und Moscheen,
symbolisierten osmanischen Vergangenheit.
Modernisierungsprogramms
Bedeutete
die Ausrufung der Republik einen revolutionären Akt zur Beendigung des
624jährigen osmanischen Sultanats, so folgte am 3. März 1924 mit der
Abschaffung des als höchste Instanz der gesamten islamischen Welt geltenden
Kalifats die Befreiung von über 1000jährigem religiösen Ballast. Die religiösen
Rechtsnormen wurden durch die Übernahme des Schweizer Zivilrechts, des
italienischen (faschistischen) Strafrechts und des deutschen Handels- und
Seerechts abgelöst. Folge war unter anderem eine weitgehende rechtliche
Gleichstellung der Frauen, ein Verbot der Polygamie sowie die Einführung von
Zivilehen.
»Friede im Land, Friede in der Welt« lautete der Leitgedanke der kemalistischen
Außenpolitik zur Sicherung der Unabhängigkeit. Deren Kernstück war die 1925
vertraglich versicherte Freundschaft mit der Sowjetunion, die als erstes Land
die Regierung in Ankara anerkannt und deren Unabhängigkeitskampf mit
Waffenlieferungen unterstützt hatte. Doch die junge Republik bemühte sich auch
um eine Gleichgewichtspolitik mit freundschaftlichen Beziehungen zu allen
Nachbarstaaten einschließlich Griechenlands. Angesichts der auf den Nahen Osten
zielenden Kriegsvorbereitungen des faschistischen Italien initiierte Ankara 1937
den Saadabad-Freundschafts- und Solidaritätspakt mit
dem Iran, Afghanistan und dem Irak, der sich als Vorläufer einer späteren
blockfreien Politik der dritten Welt bewerten läßt.
Das Prinzip »Frieden im Land« dagegen wurde gebrochen. Die Kurden, auf der Lausanner
Friedenskonferenz im Sommer 1923 (siehe jW vom
27.7.2013) vom türkischen Verhandlungsführer Ismet Pascha noch als Partner beim
Aufbau des neuen Staates bezeichnet, wurden unterworfen. Geprägt durch den
Zerfall des Osmanischen Reiches setzten die Kemalisten auf die künstliche
Schaffung einer einheitlichen türkischen Staatsnation auf dem Boden des
Vielvölkerstaates. Dazu kam ein auf die Jungtürken zurückgehender
panturanischer Nationalismus2, der die rassische Überlegenheit der Turkvölker
propagierte. »Wer nicht von Türken abstammt, hat an dieses Land nur einen
Anspruch, nämlich Diener oder Sklave zu sein«3, verkündete Justizminister
Mahmut Esat Bozkurt im Jahr 1930. Kurden wurden zu Bergtürken erklärt, ihrer
Sprache und traditioneller Autonomierechte beraubt. Erzwungene Umsiedlungen zur
Umgestaltung der Bevölkerungsstruktur im Sinne des Türkentums
sowie die Niederschlagung der gegen diese Vertreibungen gerichteten Revolten
kosteten in den 1920er und 1930er Jahren hunderttausende Menschenleben.
So hatte die Mißachtung ihrer Rechte 1925 zum ersten
Aufstand von Kurden unter Scheich Said geführt, bei dem sich allerdings
legitime nationale Forderungen mit reaktionären Losungen zur Wiedererrichtung
von Kalifat und Sultanat verbunden hatten. Die kemalistische Republikanische
Volkspartei (CHP) nutzte das zur Niederschlagung der Revolte erlassene
Republikschutzgesetz zugleich zum Verbot der von rechten Oppositionellen in der
Nationalversammlung gebildeten Fortschrittspartei, zur Auflösung religiöser
Orden sowie zur Unterdrückung der Kommunistischen Partei. Deren Führungsgruppe
um Mustafa Suphi war bereits 1921 von Kemalisten ermordet worden. Denn die
Gründung der Republik erfolgte auch aus dem Erbe des jungtürkischen
Völkermordes an den Armeniern 1915/16. Dazu kamen die mit den Lausanner Vertrag
1923 legitimierte Vertreibung der kleinasiatischen Christen sowie die
Kolonialisierung Kurdistans. Bis heute vergiftet daher der Chauvinismus einer Unterdrückernation die Türkei. Es belastete das Land zudem
ein aufgeblähter Militärapparat sowie eine gegen ethnische und religiöse
Minderheiten, die Arbeiterbewegung und letztlich jede Opposition gerichtete
paranoide Sicherheitsdoktrin.
Blockierte Landreform
Im
Unterschied zu den bürgerlichen Revolutionen Europas als Folge
jahrhundertelangen sozioökonomischen Wandels war der bürgerliche Staat in der
Türkei zum Zeitpunkt der von den militärischen und bürokratischen Eliten
betriebenen Republikgründung weiter entwickelt als die bürgerliche
Gesellschaft. Die Gewinnung der Staatsmacht durch die Kemalisten bedeutete so
nicht die soziale Emanzipation der erst in kleinen Ansätzen vorhandenen
türkischen Bourgeoisie. Sie schuf in dem wirtschaftlich unterentwickelten
Agrarland vielmehr die Voraussetzungen für die volle Herausbildung einer
solchen Klasse, nachdem die im Osmanischen Reich wirtschaftlich führenden
christlichen und jüdischen Minderheiten ausgerottet, vertrieben oder entmachtet
worden waren und ihr geplündertes Vermögen in das Startkapital der Republik
einging. »Welche auch unsere militärischen Siege gewesen sein mögen, sie werden
nicht von Dauer sein und in kurzer Zeit an Glanz und Bedeutung verlieren, wenn
sie nicht durch Siege auf dem Gebiet der Ökonomie vollendet werden.«4 Mustafa Kemal sah eine Entwicklung der Wirtschaft als
Voraussetzung der Unabhängigkeit an. Diesem Ziel diente die als »Etatismus« zu einem der sechs Prinzipien des Kemalismus
erhobene staatliche Wirtschaftsförderung nach 1929. Trotz finanzieller und
technischer Hilfe aus der Sowjetunion bei den Fünfjahrplänen der Industrie
handelte es sich dabei nicht um eine sozialistische Planwirtschaft. Die interventionistisch-protektionistische Wirtschaftspolitik
sollte vielmehr mit Schutzzöllen, der Schaffung von Infrastruktur und moderner
Gesetzgebung sowie dem Aufbau von Staatsbetrieben als Beschleuniger der
privaten Kapitalakkumulation wirken. So wurden eine staatliche Leichtindustrie
sowie die Grundlagen für eine Montanindustrie geschaffen. Im Bergbau, der
Elektrizitätsversorgung und bei der Eisenbahn erfolgten
Verstaatlichungsmaßnahmen durch Rückkauf von ausländischen Eigentümern. Zudem
wurden Eisenbahnschinen über Tausende Kilometer neu
verlegt.
In den 1920er Jahren waren 85 Prozent der Bevölkerung der Türkei in der
Landwirtschaft beschäftigt, wo Großgrundbesitz und feudale Zustände dominierten.
»Der wahre Eigentümer, der wahre Herr der Türkei ist der Bauer, da er der
eigentliche Produzent ist! Aufgrund dessen verdient der Bauer zuallererst
Wohlstand, Glück und Reichtum«5, hatte Mustafa Kemal bereits im März 1922 vor
der Nationalversammlung erklärt. Zwar hob die Regierung 1925 den von
Steuerpächtern eingezogenen Zehnt für die Bauern auf. Doch staatliche
Fördermaßnahmen wie günstige Kredite und der Bau von Bewässerungsanlagen kamen
fast ausschließlich vermögenden Bauern zugute, die sich zu einer Schicht kapitalistischer Großbauern weiterentwickeln konnten. Die
Türkei wurde von einem Getreide importierenden Land zu einem Getreideexporteur.
Die armen Bauern hatten keinen Nutzen davon. Eine Landreform, die ein Kernstück
jeder bürgerlichen Revolution in einem unterentwickelten Land sein müßte, wurde durch die Großgrundbesitzerlobby innerhalb der
Volkspartei blockiert. Noch 1945 verfügten nur sieben Prozent der
Bauernwirtschaften über ausreichend eigenes Land, während 33000
Großgrundbesitzer 35 Prozent der Anbaufläche besaßen. Auf deren Druck strich
die CHP nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur die Forderung nach einer
Landreform aus ihrer Programmatik, sondern schloß
auch die zuvor zur kulturellen Bildung der Landbevölkerung gegründeten
staatlichen Dorfinstitute wieder. Da die Landbevölkerung weiter in ihren
elenden Verhältnissen verharrte, fehlte es zugleich an Inlandsnachfrage als
stimulierendem Element für die Industrieproduktion. Die Beibehaltung feudaler
Strukturen machte die Landbevölkerung anfällig für Manipulationen durch
religiöse Kräfte, während die Grundherren »ihre Bauern« beim Übergang in das
Mehrparteiensystem als Stimmvieh einbrachten.
Antidemokratische Entwicklung
»Die
politische Weitsicht des ersten türkischen Präsidenten konnte auch deshalb oft
nicht zur Tat werden, weil er an die herrschende Schicht von Militärs und
Beamten gebunden war, die einerseits selbst aus der alten Militär- und
Beamtenkaste stammte und zum anderen mit den liberalen Gutsbesitzern und der
sich formierenden türkischen Großbourgeoisie aufs engste verknüpft waren«6,
beschreibt Atatürk-Biograph Johannes Glasneck das
nicht nur in der Frage der Bodenreform sichtbar gewordene Dilemma des
Republikgründers: die bürgerlich-demokratische Revolution blieb unvollendet.
»Die Grenzen von Atatürks Persönlichkeit und Wirken sind dadurch bestimmt, daß er ein bürgerlicher Nationalist und von dem in der
Türkei herrschenden Klassenkräfteverhältnis abhängig war.«7
So vertrat Mustafa Kemal die utopische Überzeugung, daß
»das Volk der türkischen Republik nicht als aus unterschiedlichen Klassen
bestehend zu erkennen« sei. Diese Einschätzung wurde zum Prinzip erhoben und so
im Programm der Volkspartei festgeschrieben. Ziel sei die »Gewährung einer
inneren Ordnung und Solidarität anstelle von Klassenkämpfen«.8 In der Praxis
wurde damit die Einparteienherrschaft der CHP ebenso
gerechtfertigt, wie die Verfolgung der Kommunisten und die Rechtlosigkeit der
bis hin zu Zwangsarbeit beim Aufbau der staatlichen Industrie ausgepreßten Werktätigen.
Die dem Militär und der Bürokratie entstammenden kemalistischen Kader begriffen
die Menschen als passive, zu lenkende und zu erziehende Masse. Ihre »trotz des
Volkes, aber für das Volk«9 angeordneten Maßnahmen griffen – vom Muezzinruf in türkischer statt in arabischer Sprache über
das Verbot des traditionellen Fez als Kopfbedeckung und die Pflicht zum
Huttragen, die Einführung von Nachnamen bis zur Umstellung der arabischen auf
die lateinische Schrift – tief in das Alltagsleben von Millionen Menschen ein. Bürokratie
und Massen standen sich dabei unversöhnlich gegenüber. »Bei der türkischen
Revolution, die eine unglaubliche Anzahl von unschuldigen Menschen aus den
nichtigsten Gründen an den Galgen schickte, sind der Schrecken und die Gewalt
auf eine beängstigende Art miteinander verschmolzen«10, sieht der marxistische
Politologe Haluk Gerger den aufklärerischen Anspruch
in einer Spirale von Schrecken und Gewalt konterkariert.
Mit dem Ausschluß jeder selbständigen Mitwirkung der
Volksmassen beim Modernisierungsprogramm beraubte sich die kemalistische
Führung zugleich der Widerstandskräfte zur Verteidigung der Revolution. Deren
Fortführung war zum Zeitpunkt des Todes von Mustafa Kemal im November 1938
bereits durch jene Klasse bedroht, deren Existenzbedingungen der kemalistische
Staat erst geschaffen hatte. Protegiert von der staatlichen Wirtschaftspolitik
war eine türkische Großbourgeoisie entstanden, deren Schwerpunkt im Handel und
Bankwesen lag. Diese Bourgeoisie, die im Etatismus
lediglich eine vorübergehende Quelle ihres Profits und nicht ein Mittel zur
Sicherung der nationalen Unabhängigkeit sah, fühlte sich stark genug, um die
Fesseln des Staates abzuwerfen und die Tür für Auslandskapital zu öffnen.
Deutlich wurde dies zuerst in einer außenpolitischen Wende zu den
kapitalistischen Mächten. Eine Ausweitung des Freundschaftspaktes mit der
Sowjetunion scheiterte an der für Ankara unerfüllbaren Forderung Stalins zur
Stationierung sowjetischer Truppen an den Meerengen des Bosporus und der Dardanelle. Nachdem bereits beträchtliche britische
Anleihen ins Land geflossen waren, schloß die
türkische Regierung nun im Oktober 1939 ein Defensivbündnis mit Großbritannien
und Frankreich. Zwar verstand es Staatspräsident Ismet Inönü während des
Zweiten Weltkrieges, die Neutralität der Türkei zu wahren. Doch ein am 18. Juni
1941 – vier Tage vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion – geschlossener
Nichtangriffspakt mit Hitlerdeutschland begünstigte objektiv die faschistische
Aggressionspolitik.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte die türkische Großbourgeoisie endgültig ihr
Profitstreben über das nationale Interesse. Das Jahr 1947 endete mit einer
defizitären Zahlungsbilanz – zum ersten Mal seit dem Jahr 1930. Seitdem
verzeichnet die türkische Wirtschaft ein kontinuierliches Außenhandelsdefizit,
und die Frage fortwährenden Devisenbedarfs bestimmt die Außenpolitik des Landes
entscheidend mit. Die herrschenden Klassen der Türkei beschlossen damals, sich
vollständig auf die militärisch-wirtschaftliche Hilfe des Westens zu verlassen.
Denn nur dank ausländischer Zuschüsse konnte das weiterhin unterentwickelte
Land mehr investieren und konsumieren, als es selbst zu produzieren in der Lage
war. »Als Gegenleistung konnte die unvermögende Bourgeoisie nur eine einzige
Gegenleistung anbieten, nämlich in den Konflikten des Kalten Krieges den
Polizisten zu spielen«11, meint Haluk Gerger, der die
Nachkriegsgeschichte der Türkei als »Versklavung im Dienst des Imperialismus«
bezeichnet.12
Kapitalismus und Islam
Die Türkei
bot sich dem Westen als militärisches Sprungbrett im Nahen Osten und
antikommunistischer Schutzwall gegen die Sowjetunion an. Eine 1947 im Rahmen
der Truman-Doktrin gezeichnete erste US-Rüstungsanleihe von 100 Millionen
US-Dollar wurde zum Beginn einer Amerikanisierung der türkischen Armee. Nachdem
Ankara gegenüber Washington erfolgreich das kommunistische Gespenst bemüht
hatte, flossen ab 1948 Marshallplan-Gelder in die Türkei. Die
US-Wirtschaftshilfe wurde an die Vorgaben gekoppelt, den von Mustafa Kemal
eingeschlagenen Weg zum Aufbau einer Nationalindustrie zu beenden, der
Privatwirtschaft den Vorrang zu geben und Hindernisse für ausländische
Investitionen zu beseitigen. Der Wahlsieg der Demokratischen Partei (DP) im
Jahr 1950 war der sichtbare Ausdruck des Scheiterns des kemalistischen
Entwicklungsprojektes eines dritten Weges jenseits von Kapitalismus und
Sozialismus. Dieses beruhte auf der illusionären Annahme einer
klassenkampflosen türkischen Gesellschaft.
Die DP, als politische Vertretung der kapital- und bodenbesitzenden
Oberschichten, war von ehemaligen CHP-Führern um den früheren
Ministerpräsidenten Celal Bayar gegründeten worden. Ihr Regierungsprogramm
unter Ministerpräsident Adnan Menderes läßt sich
zusammenfassen als politisch-militärische Westbindung, wirtschaftliche
Liberalisierung, die Förderung der religiösen Reaktion und verschärften Kampf
gegen die Arbeiterbewegung. Menderes entsandte 1950 türkische Soldaten an der
Seite der USA in den Koreakrieg und bereitete damit einer Aufnahme der Türkei
in die NATO im Jahr 1952 den Boden. Das Land wurde nun mit einem Netz von
US-Stützpunkten als Basis für imperialistische Aggression überzogen. Mit dem
1955 von dem Irak, dem Iran und Pakistan sowie der ehemaligen Kolonialmacht
Großbritannien geschlossenen Bagdadpakt positionierte
sich die Türkei offen gegen antikoloniale Bestrebungen in der islamischen Welt.
Menderes, der mit seiner parallel zum wirtschaftlichen Niedergang immer
autoritäreren Politik große Teile des Volkes gegen sich aufgebracht hatte,
wurde 1960 vom Militär gestürzt und hingerichtet. An der von ihm
eingeschlagenen grundsätzlichen wirtschaftlichen Orientierung auf ein mit
Söldnerdiensten für den Imperialismus abzugeltendes, abhängiges
Akkumulationsmodell änderten seine Nachfolger nichts. Da sich die strategische
Bedeutung der Türkei nur in einem Klima von Spannungen, bewaffneten Konflikten
und militärischen Mobilisierungen maximal vermarkten
ließ, heizte die türkische Führung eine »kommunistische Bedrohung« im eigenen
Land stets maßlos an, um weiterhin an die Fleischtöpfe der USA zu kommen. In
enger Abstimmung mit Washington erfolgten so die Militärputsche 1971 und 1980,
deren Führer sich zwar auf Atatürk beriefen, aber dessen Prinzipien mit Füßen
traten. Nach dem Ende des Kalten Krieges verkaufte sich die Türkei, die zu
diesem Zeitpunkt einen blutigen Kolonialkrieg gegen den kurdischen Aufstand im
eigenen Land führte, dem Westen als Ordnungsmacht gegen das neue Feindbild des
»Terrorismus«.
Mit einem erdrutschartigen Wahlsieg in Folge einer schweren Wirtschaftskrise
konnte im Jahr 2002 die islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und
Aufschwung (AKP) allein eine Regierung bilden. Die AKP hat ihre Wurzeln zwar in
den verbotenen und noch 1997 vom Militär von der Macht verdrängten
islamistischen Vorgängerparteien. Doch weißgewaschen von allen antiwestlichen
Programmpunkten, mit Bekenntnissen zu Wirtschaftsliberalismus, EU-Beitritt und
NATO-Mitgliedschaft erscheint die AKP unter ihrem Vorsitzenden und
Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan wie eine
Wiederauflage der Demokratischen Partei von Menderes aus den 1950er Jahren. So,
wie sich in der DP alle Gegner des kemalistischen Etatismus
und Laizismus vereinten, wurde die AKP zum Sammelbecken aller mit den
erstarrten Strukturen der postkemalistischen Militärdiktatur Unzufriedenen –
von Islamisten bis zu prowestlichen Liberalen. Wie die DP verbindet die AKP
wirtschaftsliberale Marktöffnung mit einem gesellschaftspolitischen Rollback
durch die Stärkung religiöser Strukturen. Und so wie die Türkei in den 1950er
Jahren der NATO unterworfen und gegen die antikolonialen Bewegungen in Stellung
gebracht wurde, dient das heute an vorderster Front der Kriegsbrandstifter gegen
Syrien stehende Land weiterhin als das trojanische Pferd der USA in der
islamischen Welt. Ebenso wie Menderes, der dem wachsenden Zorn breiter
Volksschichten nur mit Polizeigewalt begegnen konnte, erstickt Erdogan heute
die Proteste gegen seine autoritäre Herrschaft mit Tränengas.
Der fortschrittliche Gehalt des Kemalismus, die Verteidigung der nationalen
Souveränität durch eine Friedenspolitik mit antiimperialistischer
Grundorientierung bei Förderung einer eigenständigen Wirtschaft, wurde von den
Kemalisten bereits in den 1940er Jahren verraten. Dagegen lebt das negative
Erbe des Kemalismus in Form von Obrigkeitsstaatlichkeit und einer gegen
Minderheiten gerichteten rassistischen Ideologie bis heute im AKP-Staat fort.
Anmerkungen
1 Kurt
Steinhaus: Soziologie der türkischen Revolution. Frankfurt am Main 1969, S. 191
2 Jungtürken bezeichnet eine politische Richtung im Osmanischen Reich, deren
Anhänger anfänglich liberal ausgerichtet, für politische, militärische und
wirtschaftliche Modernisierungen eintraten. Ab dem Regierungseintritt 1908
nahmen die Jungtürken türkisch-nationalistische Positionen ein und forderten
die Unterdrückung der nichttürkischen Bevölkerung.Panturanisch
bezeichnet die Ideologie der vermeintlichen, kulturellen und politischen
Einheit aller Turkvölker. (Anm. d. Red.)
3 Zitiert nach Gérard Chaliand: Kurdistan und die
Kurden, Band I. Göttingen 1984, S. 116
4 Zitiert nach Johannes Glasneck: Kemal Atatürk und
die moderne Türkei. Freiburg 2010, S. 187
5 Ebenda, S. 193
6 Ebenda, S. 195
7 Ebenda, S. 228
8 Zitiert nach Hakki Keskin: Die Türkei – Vom Osmanischen Reich zum
Nationalstaat – Werdegang einer Unterentwicklung. Berlin 1981, S. 123
9 Ebenda, S. 124
10 Haluk Gerger: Die türkische Außenpolitik nach
1945. Köln/Karlsruhe 2008, S. 20
11 Ebenda, S. 93
12 Ebenda, S. 27