Junge Welt 27.07.2013
/ Geschichte / Seite 15
Auf dem Weg zur Republik
Vor 90 Jahren machte die Türkei in Lausanne einen
wichtigen Schritt zur Selbständigkeit
Von Nick
Brauns
Die Unterzeichnung des Vertrages von
Lausanne zwischen der Türkei und den alliierten Siegermächten beendete am 24.
Juli 1923 den Ersten Weltkrieg auch im Nahen Osten. Damit war die Türkei »als
erstes größeres mohammedanisches Land nicht nur nominell, sondern in
Wirklichkeit frei geworden«, beschrieb der aus Baku stammende und in Berlin
lebende, zum Islam konvertierte Schriftsteller Essad Bey die Wirkung dieses Vertrages. Die Türkei »war aber auch
der erste Besiegte des Weltkrieges, der bewiesen hatte, daß
man Diktate der Sieger nicht annehmen muß. Der Sieg
Mustafa Kemals erweckte die Hoffnung auf Freiheit durch die eigene Kraft.«
Nach der Kriegsniederlage der Achsmächte war die Türkei Ende 1918 von Ententetruppen besetzt worden. Der 1920 dem Sultan
diktierte Friedensvertrag von Sèvres beinhaltete die
Abtretung Ostthrakiens und der Region um Izmir an Griechenland. Ebenso wurde darin die Gründung eines unter US-Mandat stehenden
armenischen sowie eines kurdischen Staates und die Aufteilung Anatoliens in
britische, italienische und französische Einflußsphären
festgeschrieben. Dagegen hatte sich eine landesweite Widerstandsbewegung aus
ehemaligen osmanischen Offizieren, bäuerlichen Partisanen und kurdischen
Stammeskriegern gebildet. Im August 1921 gelang es der von Sowjetrußland
mit Waffen versorgten Befreiungsarmee, die von
Großbritannien unterstützte griechische Armee 100 Kilometer vor Ankara zu
schlagen und in die Gegenoffensive zu kommen. Am 1. November 1922 verkündete
General Mustafa Kemal, der in Ankara eine Regierung aus Vertretern der
nationalen Bourgeoisie und des patriotischen Teils der Grundbesitzer gebildete
hatte, den Sieg des neuen türkischen Staates.
Völkerrechtlich anerkannt
Am 9. November 1922 brach die von Premierminister Ismet Pascha geleitete
türkische Delegation mit dem Orientexpreß zur vom
Völkerbund initiierten Friedenskonferenz in die Schweizer Stadt Lausanne auf.
Zu einem symbolhaften Eklat kam es bereits bei der Eröffnung am 20. November.
Ismet weigerte sich, Platz zu nehmen, bis der türkischen Delegation statt der
für sie vorgesehenen Holzstühle ebensolche Sessel wie den Ententediplomaten
zur Verfügung gestellt wurden. Damit machte der türkische Delegationsleiter,
der bei provokanten Forderungen seiner Verhandlungsgegner kurzerhand sein
Hörgerät ausschaltete, deutlich, daß die bislang nur
von Sowjetrußland anerkannte Regierung von Ankara
einen gleichberechtigten Platz zwischen den anderen Mächten einzunehmen
gedachte.
Die Konferenz wurde zwischen dem 4. Februar und 23. April 1923 unterbrochen,
weil die türkische Delegation auf vollständige Finanzhoheit des zuvor unter internationalen Schuldenverwaltung stehenden Landes bestand.
Außerdem forderte sie die Abschaffung wirtschaftlicher Privilegien für
ausländische Mächte und wies das Vertragsprotokoll der Entente zurück. Ziel sei
es, erklärte Mustafa Kemal am 6. März in der Großen Nationalversammlung, »in
umfassender und sicherer Form die Anerkennung der Unabhängigkeit und der Rechte
der Nation und des Landes in jeder administrativen, politischen,
wirtschaftlichen, finanziellen und anderen Frage durchzusetzen und die völlige
Räumung der zurückgewonnenen Gebiete zu erlangen«.
Diese Hartnäckigkeit zahlte sich aus. Mit der Vertragsunterzeichnung im
Zeremoniensaal der Universität von Lausanne wurde der niemals ratifizierte
Vertrag von Sèvres revidiert und die türkische
Herrschaft über Ostthrakien mit Edirne, Izmir, Kilikien, sowie Teile Armeniens
und Kurdistans völkerrechtlich anerkannt. Die Kapitulationen, die das
Osmanische Reich in den Status einer Halbkolonie versetzt hatten, wurden
abgeschafft. Allerdings verpflichtete sich die türkische Regierung, die
Zolltarife des Jahres 1916 bis 1928 beizubehalten und einen Teil der
osmanischen Staatsschuld zu tilgen. Zudem wurde den Großmächten ein
Mitspracherecht über die Meerengen eingeräumt. Die zentrale Streitfrage der
Zukunft von Mosul wurde an den Völkerbund verwiesen. Dieser gliederte die von
der Türkei beanspruchte und von britischen Truppen besetzte ehemalige
osmanische Provinz mit ihren Ölfeldern im Dezember 1925 dem britischen
Mandatsgebiet Irak an.
Kurden sind die Verlierer
Bestandteil des Lausanner Vertrages war eine Konvention über
»Bevölkerungsaustausch« zwischen Griechenland und der Türkei. Auch der über
seinen Hochkommissar für das Flüchtlingswesen, Fridtjof Nansen, in Lausanne
vertretenen Völkerbund befürwortete »ethnical engineering« zur Bildung homogener Nationalstaaten als
Lösung von Konflikten zwischen Volksgruppen. Nicht die Sprache, sondern die
Glaubenszugehörigkeit war das Kriterium, nach dem 1,25 Millionen orthodoxe
Christen aus der Türkei nach Griechenland und eine halbe Million griechischsprachiger Muslime in die Türkei umgesiedelt
wurden. Der größte Teil von ihnen war schon vor Vertragsschluß
vertrieben und oftmals ermordet worden. Lediglich 110000 »Rum« in Istanbul und
106000 Muslime in Westthrakien waren von dem Bevölkerungsaustausch ausgenommen.
»Nicht-muslimischen Minderheiten« in der Türkei sichert der Lausanner Vertrag
das Recht auf eigene Schulen und muttersprachlichen Unterricht, freie Ausübung
des Glaubens und Schutz ihrer Gotteshäuser zu. Während den heute 0,2 Prozent
christlichen Griechen und Armenier sowie Juden in der Türkei solche
Minderheitenrechte gewährt werden, verweigert der Staat diese den als Muslime
eingestuften Aleviten, obwohl diese rund ein Viertel
der Bevölkerung ausmachen.
Zu den größten Verlierern von Lausanne gehörten die trotz ihrer entscheidenden
Rolle im Unabhängigkeitskrieg am Verhandlungstisch nicht vertretenen Kurden.
Ölinteressen standen im Hintergrund, als der britische Außenminister Lord
George N. Curzon, Hauptaktionär der Türkischen Petroleum Gesellschaft, mit
Blick auf Mosul kurdische Autonomierechte forderte. Um zu verhindern, daß die Kurden unter Minderheitenschutz fielen, behauptete
Ismet, diese seien keine nationale Minderheit, sondern Partner des türkischen
Volkes mit gleichem Anteil an Regierung und Verwaltung des Landes. Während die
Kurden durch den Lausanner Vertrag keinen Status erlangten, wurden ihre
Siedlungsgebiete auf vier Staaten aufgeteilt, in denen sie schon bald Zwangsassimilation, Vertreibung und Massakrierung
ausgesetzt waren. In Lausanne wurden damit die Grundlagen für die bis heute
ungelöste kurdische Frage gelegt.
Mit dem Lausanner Vertrag hatte die türkische Nationalbewegung die Befreiung
der Türkei von der imperialistischen Vorherrschaft als Voraussetzung
politischer und ökonomischer Unabhängigkeit weitgehend erreicht. Nachdem am 6.
Oktober 1923 die letzten Ententesoldaten Istanbul
verlassen hatten, verkündete Mustafa Kemal am 29. Oktober die Gründung der
Republik Türkei, deren erster Präsident er wurde.
Quelle: Auflösung der Versailler Systems
Was ist nun tatsächlich durch die
Lausanner Konferenz geschaffen worden? Sie bedeutet einen starken Erfolg der
Türkei, die im Kampf mit den westeuropäischen Kapitalisten und ihren
griechischen Agenten siegreich geblieben ist. Das gesamte Kleinasien, nebst
Armenien, Kurdistan und Cilicien sind wieder
türkischer Besitz. Dazu kommt in Europa das Gebiet von Konstantinopel und Adrianopel. Im Rahmen dieses neuen türkischen Reiches
herrscht die türkische Nationalität unbedingt vor, denn man hat die Armenier
und Griechen zum allergrößten Teil umgebracht oder vertrieben. Der
Ausrottungskrieg gegen Griechen und Armenier hatte nicht nur nationalistische
Beweggründe, sondern bisher stellten diese beiden Völker fast ausschließlich
die Angehörigen der Bourgeoisie im türkischen Reich. Jetzt hat die türkische
Bourgeoisie sich von diesen Konkurrenten befreit, und sie ist Herr im eigenen
Haus. Immer mehr verwandelt sich die türkische Nationalbewegung aus einem
Befreiungskampf der unterdrückten Bauern und kleinen Leute in eine Spekulation
der jungen türkischen Bourgeoisie. (…) Im Ganzen bedeutet die Lausanner
Konferenz einen schweren Mißerfolg des europäischen
Kapitalismus als Ganzes gesehen, sowohl gegenüber den Orientalen wie gegenüber
den Amerikanern. Wenn auch die Regierung Kemal Paschas in der Dardanellenfrage nachgegeben hat, so hätte sie ihre übrigen
Erfolge niemals erzielt, wenn nicht Sowjetrußland
durch seine bloße Existenz das politische Schwergewicht im Osten verschoben hätte.
Die Lausanner Niederlage des westeuropäischen Kapitalismus ist ein Schritt
vorwärts in der Auflösung des Versailler Systems und damit objektiv ein Schritt
vorwärts in der Zersetzung des kapitalistischen Europas.«
Arthur Rosenberg über den »Sogenannten Frieden von
Lausanne« in der Zeitung der Komintern Internationale Pressekorrespondenz Nr.
123, 25. Juli 1923