Vor dem Bürgerkrieg
Jahresrückblick. Heute: Türkei. Das Regime des
türkischen Präsidenten Erdogan nimmt zunehmend faschistische Züge an
Von Nick
Brauns
Es sah nach
einem Durchbruch im festgefahrenen Friedensprozess zwischen dem türkischen
Staat und der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, aus: Am 28. Februar 2015
präsentierten Regierungsmitglieder der islamisch-konservativen Partei für
Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) sowie Abgeordnete der prokurdischen
Demokratischen Partei der Völker (HDP) im Istanbuler Dolmabahce-Palast
einen gemeinsamen Aktionsplan. Doch bereits einen Tag später erklärte
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan diese mit dem
inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan ausgearbeitete Erklärung für null
und nichtig. Der Grund für diesen Abbruch des seit über zwei Jahren andauernden
Dialogprozesses dürfte bei der Weigerung der HDP gelegen haben, als
Mehrheitsbeschafferin der Einführung eines auf Erdogan zugeschnittenen
Präsidialsystems zuzustimmen.
Hunderte
Angriffe auf die HDP sowie ein Anschlag auf ihre Wahlkampfabschlusskundgebung
in Diyarbakir, der vier Menschen das Leben kostete, konnten ihren Triumph bei
den Parlamentswahlen am 7. Juni nicht verhindern. Als erste prokurdische Partei
übersprang die HDP mit 13 Prozent der abgegebenen Stimmen die
Zehn-Prozent-Hürde und zog mit 80 Abgeordneten, darunter Kommunisten und
Vertreter religiöser Minderheiten, in die Nationalversammlung ein. Die um neun
Prozentpunkte auf 41 Prozent eingebrochene AKP war zur Fortsetzung ihrer
bis dato 13jährigen Regierung erstmals auf einen Koalitionspartner angewiesen.
Doch der drohende Verlust ihrer Alleinherrschaft und der damit verbundenen
Kontrolle der Justiz ließ führende AKP-Politiker eine Wiederaufnahme von Korruptionsermittlungsverfahren fürchten. So nannte Erdogan
die Wahl einen »Fehler«, den es zu »korrigieren« gelte. Koalitionsverhandlungen
wurden an die Wand gefahren – und für den 1. November wurden Neuwahlen
angesetzt.
Strategie der Spannung
Um die
Stimmung für eine erneute Alleinregierung als scheinbarer Garantin von
Stabilität zu bereiten, setzte die AKP auf eine Strategie der Spannung. Der
Selbstmordanschlag des »Islamischen Staates« (IS) vom 20. Juli auf eine
Solidaritätsbrigade in der Grenzstadt Suruc kostete
34 junge sozialisten das Leben, mehr als 70 weitere
wurden teils schwer verletzt. Sie hatten in der syrisch-kurdischen Stadt Kobani beim Wiederaufbau helfen wollen. Dieses Massaker
sowie die nachfolgende Ermordung von zwei Polizisten durch eine PKK-Zelle
dienten der AKP als Vorwand ihres »Krieges gegen den Terror«.
Aber
lediglich eine Handvoll Luftschläge gegen bereits geräumte IS-Stellungen in
Syrien wurden zur Beruhigung der westlichen Verbündeten geführt. Dagegen befahl
Ankara ab dem 25. Juli massive Bombardierungen von PKK-Stellungen in der Türkei
und im Nordirak. Eine Reihe kurdischer Städte wie Cizre,
Nusaybin und Diyarbakir-Sur
verkündeten daraufhin ihre »Autonomie«. Um Verhaftungen von Bürgermeistern und
Aktivisten der kommunalen Selbstverwaltung zu verhindern, hoben Jugendliche
Gräben aus und errichteten Barrikaden. Mit tagelangen Ausgangssperren und
Strafexpeditionen von Polizeisonderkommandos versuchte die AKP, den
Widerstandswillen in diesen PKK-Hochburgen zu brechen. Bei Vergeltungsangriffen
der Guerilla starben Hunderte Soldaten und Polizisten. Mit dem Ausspruch, bei
einer Mehrheit von 400 AKP-Abgeordneten wäre dies nicht passiert, gab Erdogan
indirekt den HDP-Wählern die Schuld daran. Dies war das Signal für
Rollkommandos der faschistischen Grauen Wölfe, die Anfang September rund 200 HDP-Büros
verwüsteten.
Anschläge und Chaos
Am 10.
Oktober sprengten sich zwei Selbstmordattentäter inmitten einer von
sozialistischen Parteien, der HDP und Gewerkschaften organisierten
Friedenskundgebung in Ankara in die Luft. Bei diesem schwersten Anschlag der
türkischen Geschichte starben über 100 Menschen. Die der Regierung im Vorfeld
namentlich bekannten Attentäter gehörten ebenso wie die Bomber von Suruc und Diyarbakir einer unter Geheimdienstaufsicht
agierenden Zelle des IS aus der osttürkischen Provinz Adiyaman an.
Der 1.
November brachte mit einer unerwarteten Mehrheit von 49,5 Prozent für die AKP
die bittere Erkenntnis, dass Erdogans Plan, das Chaos
für seine Ziele zu nutzen, aufgegangen war. Zwar hatte die HDP mit rund elf
Prozent erneut den Parlamentseinzug trotz Sperrklausel geschafft. Doch mit
ihrem antikurdischen Kriegskurs war der AKP ein Einbruch in das
rechtsnationalistische Wählerspektrum gelungen. Entsprechend büßte die im Juni
noch auf knapp zwölf Prozent der Stimmen gekommenen
faschistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) die Hälfte
ihrer Abgeordnetenmandate ein. Die kemalistisch-sozialdemokratische
Republikanische Volkspartei (CHP) verharrte bei rund 25 Prozent.
Die erneuten AKP-Alleinregierung markiert den Übergang zu offen
faschistischen Herrschaftsmethoden. Rollkommandos der sich aus dem Milieu der
Grauen Wölfe rekrutierenden »Osmanen-Heime« dienen zur Einschüchterung von
Oppositionellen, während in den kurdischen Städten aus Dschihadisten
gebildete Sondereinheiten unter dem Namen Esedullah
Tim (»Gottes Löwen«) wüten.
Unter
Führung eines mittlerweile zum Vizeminister für Sport ernannten
AKP-Jugendfunktionärs überfielen Neofaschisten im September die Redaktion der
Erdogan-kritischen Tageszeitung Hürriyet in Istanbul. Mehrere Zeitungen
und Fernsehsender, die zum Netzwerk des einstmals mit Erdogan verbündeten, aber
mittlerweile zum Staatsfeind Nummer eins ernannten Predigers Fethullah Gülen gehörten, wurden per Gerichtsbeschluss
unter Treuhänderschaft AKP-naher Figuren gestellt. Nach einer Strafanzeige Erdogans wurden im November die prominenten Journalisten
Can Dündar und Erdem Gül wegen »Spionage« verhaftet. Ihr »Verbrechen«: Sie
hatten in der Tageszeitung Cumhuriyet
Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes für den IS dokumentiert.
Kurden als Hauptfeind
Zwar war die
Türkei pro forma der US-geführten Allianz gegen die islamistische Terrormiliz
beigetreten. Die Verbündeten fliegen seit dem Sommer vom Luftwaffenstützpunkt Incirlik aus Angriffe auf Ziele in Syrien. Doch zugleich
machte die AKP-Regierung deutlich, dass sie in den gegen den IS kämpfenden
kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG in Nordsyrien den Hauptfeind sieht.
Ein weiteres Vordringen der YPG in das vom IS kontrollierte Gebiet westlich des
Euphrat wurde von der AKP als das Überschreiten einer roten Linie betrachtet,
mehrfach wurden bereits YPG-Stellungen von der türkischen Armee beschossen.
Die Gefahr
eines türkischen Einmarsches wurde dagegen durch das Eingreifen Russlands in
Syrien vorerst gebannt. Aber mit dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges
über syrischem Hoheitsgebiet eskalierte Ankara die Situation am 24. November
weiter. Seitdem herrscht Eiszeit zwischen beiden Regierungen. So beschuldigte
Moskau anhand von Luftaufnahmen die Türkei, den IS mit dem Kauf von
geschmuggeltem Öl zu finanzieren. Von zunehmenden Spannungen geprägt ist auch
das Verhältnis Erdogans zum bisherigen
Hauptverbündeten USA aufgrund der US-Militärunterstützung für die syrischen
Kurden im Kampf gegen den IS.
Seine
Dienste als Türsteher der europäischen Abschottungspolitik lässt sich der
Staatspräsident, der die zwei Millionen in der Türkei lebenden Flüchtlinge als
Druckmittel einsetzt, nicht nur mit drei Milliarden Euro, sondern auch mit dem
Schweigen der EU zu seinem Krieg gegen die Kurden honorieren. Erstmals seit den
90er Jahren ist die Armee im Dezember wieder mit Panzern in kurdische Städte
eingerückt, Hunderte Häuser sowie historische Bauwerke wurden zerstört. Bis zu
200.000 Kurden sind auf der Flucht im eigenen Land. Die Zahl der innerhalb
eines halben Jahres von der Polizei erschossenen Zivilisten geht auf die 200
zu. Doch eingeschüchtert durch den Anschlag von Ankara und den erneuten
Wahlsieg der AKP bleiben in der Westtürkei größere Proteste gegen diese
Massaker aus.
Die Gefahr
eines auf die ganze Türkei übergreifenden Bürgerkrieges wächst derweil. Denn
angesichts wirtschaftlicher Einbrüche muss die AKP weiter auf das Schüren von
gesellschaftlichen Spannungen setzen, um ihre Anhänger an sich zu binden. 2016
könnte zum Schicksalsjahr für die Republik Türkei werden.
Aus: junge
Welt 31.12.2015