Gerichte als Tribünen des Klassenkampfes

 

Die Rote Hilfe Deutschlands und ihre Anwälte zwischen Rechtshilfe, Selbstverteidigung und Massenverteidigung

 

Von Nick Brauns

 

Eine Gruppe im Moskauer Taganka-Gefängnis inhaftierter russischer Revolutionäre wandte sich im Winter 1904/5 Ratsuchend an Lenin. Die Gefangenen, darunter die spätere Vorsitzende der Internationalen Roten Hilfe (IRH) Elena Stassowa, wollten wissen, wie sie sich als revolutionäre Sozialdemokraten vor der zaristischen Justiz verhalten sollten.[1] Sie stellten drei Taktiken zur Auswahl, die Lenin in seiner Antwort vom 6.(19.) Januar 1905 zusammenfaßte: „1. Das Gericht ablehnen und es direkt boykottieren. 2. Das Gericht ablehnen und sich an dem Gerichtserfahren nicht beteiligen. Einen Advokaten nur unter der Bedingung bestellen, daß er ausschließlich über die Nichtzuständigkeit des Gerichts vom Standpunkt des abstrakten Rechts spricht. Im Schlußwort eine profession de foi [Glaubensbekenntnis] ablegen und ein Geschworenengericht fordern. 3. Bezüglich des Schlußworts dasselbe. Das Gericht für die Agitation ausnutzen und sich zu diesem Zweck an dem Gerichtsverfahren mit Hilfe eines Advokaten beteiligen. Die Rechtswidrigkeit des Gerichts aufzeigen und sogar Vernehmung von Zeugen beantragen (Alibinachweis etc.).“[2] Vieles hänge davon ab, vor was für ein Gericht die Genossen gestellt würden und ob dort die Möglichkeit bestände, den Prozeß zur Agitation auszunutzen oder ob dies ausgeschlossen sei, antwortete Lenin, ohne sich aus der Ferne definitiv auf eine bestimmte Taktik festlegen zu wollen. „Ist das erste der Fall, so ist die Taktik Nr. 1 untauglich; ist das zweite der Fall, so ist sie am Platze, aber auch dann nur nach einem offenen bestimmten, energischem Protest und einer Erklärung. Falls jedoch die Möglichkeit besteht, das Gericht zur Agitation auszunutzen, ist die Taktik Nr. 3 wünschenswert. Eine Rede, in der eine profession de foi abgegeben wird, wäre meiner Meinung nach überhaupt sehr wünschenswert, sehr nützlich und hätte in den meisten Fällen die Chance, agitatorisch wertvoll zu sein. Besonders bei Beginn der gerichtlichen Verfolgung durch die Regierung sollten die Sozialdemokraten mit einer Rede über das sozialdemokratische Programm und die sozialdemokratische Taktik auftreten.“ Ein Bekenntnis zur Mitgliedschaft in der illegalen „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands“ hielt Lenin nicht für ratsam, statt dessen sollten die Angeklagten erklären, daß sie ihrer Überzeugung nach Sozialdemokraten sind und daher von „unserer Partei“ sprechen werden. So ließen sich die Verteidigungsreden im Sinne der Partei nutzen, ohne daß sich die Angeklagten selbst belasteten. Hart ging der Jurist Lenin, der selber als Anwalt tätig war, mit den Rechtsanwälten ins Gericht. „Die Advokaten muß man streng behandeln und den Belagerungszustand über sie verhängen, denn dieses Intellektuellenpack macht oft Schweinereien.“ Man müsse den Anwälten – insbesondere solchen, die sich selber als Sozialdemokraten bezeichnen - deutlich machen: „Wenn du Hundsfott dir auch nur die allergeringste Unanständigkeit oder politischen Opportunismus erlauben solltest (von der Unreife, der Unrichtigkeit des Sozialismus, von Schwärmerei, von der Verneinung der Gewalt durch die Sozialdemokraten, von dem friedlichen Charakter ihrer Lehre und ihrer Bewegung usw. oder von etwas Ähnlichem sprichst), so werde ich, der Angeklagte dir sofort vor allem Leuten über den Mund fahren, werde dich einen Schuft nennen, werde erklären, daß ich auf eine solche Verteidigung verzichte usw.“ Die Anwälte dürften sich ausschließlich zu den juristischen Verfahrensfragen äußern, die Belastungszeugen und den Staatsanwalt lächerlich machen, aber keinesfalls zur politischen Überzeugung des angeklagten Revolutionärs Stellung beziehen.

 

Welche Taktik die angeklagten Moskauer Bolschewiki schließlich wählten, ist nicht bekannt, doch Lenins Ratschläge hatten offenbar so viel Eindruck gemacht, daß Elena Stassowa, noch Ende 1932 in ihrer Rede auf dem Weltkongress der Internationalen Roten Hilfe in Moskau  auf die Episode bezog.[3] Schließlich hatte Lenin die grundsätzliche Problematik des Verhaltens von Revolutionären „vor der Justiz des Feindes“ deutlich gemacht. Es geht um das Agieren von Revolutionären in einem System, das sie einerseits bekämpfen und überwinden wollen, an dessen Spielregeln sie sich aber andererseits zumindest teilweise anpassen müssen, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Aus diesem Spannungsverhältnis leitete sich auch der Umgang der Roten Hilfe Deutschlands (RHD) mit ihren Rechtsanwälten und deren Auftreten vor Gericht ab.

 

Klassenjustiz

 

Ausgangspunkt der politischen Rechtshilfe für verfolgte Aktivistinnen und Aktivisten der Arbeiterbewegung und deren Auftreten vor Gericht muss eine Klärung des Verhältnisses zum bürgerlichen Recht und der bürgerlichen Justiz sein. Karl Marx zeigte auf, „dass Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der so genannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln.“ Weiter heißt es im berühmten Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie“: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen.“[4] Aus marxistischer Sicht bedeutet dies, dass Rechtssprechung und Justiz unter kapitalistischen Bedingungen grundsätzlich bürgerliche Klassenjustiz sind. Dies ist kein Kampfbegriff zur Kennzeichnung vorsätzlicher und böswilliger Rechtsbeugung zu Lasten der unteren Klassen oder zugunsten der Besitzenden, sondern – so Ernst Fraenkel in seiner Untersuchung der Klassenjustiz 1927 - „vielmehr lediglich die Feststellung einer soziologischen Tatsache“.[5]

Diese objektive Analyse der bürgerlichen Gesetzgebung und Justiz als Klassenjustiz im Sinne der Besitzenden bedeutet keineswegs, dass Revolutionäre gegenüber der Justiz in passiven Fatalismus oder ausschließlich verbalgewaltige Fundamentalopposition verfallen sollen. Neben dem Entlarven des bürgerlichen Klassenrechts gilt es, Handlungsspielräume innerhalb des Herrschaftssystems aufzuspüren, nutzbar zu machen und zu verteidigen. Denn wie der marxistische Rechtswissenschaftler Wolfgang Abendroth, betonte, ist die Rechtsordnung „niemals eine neutrale Größe, die nur aus sich selbst verstanden werden kann, sondern stets Produkt und Gegenstand der politischen und sozialen Kämpfe. Gilt diese Überlegung bereits für das Normensystem (die Verfassung, Gesetze und Rechtsverordnungen, die in einem bestimmten Staat gelten), so trifft dies erst recht auf die Anwendung dieser Normen durch diejenigen Staatsorgane zu, die sie in der Praxis durchzusetzen haben, also vor allem auf die Justiz.“[6] In der durch eine relative Stabilität ausgezeichneten Gesetzgebung spiegeln sich die Klasseninteressen innerhalb eines Staates in ihrer Widersprüchlichkeit wieder und reflektieren teilweise auch erkämpfte Errungenschaften der unteren Klassen. Im Zeitalter des Imperialismus versucht die Bourgeoisie daher insbesondere über die Rechtssprechung, das einmal fixierte Recht gegen die Kräfte des Fortschritts anzuwenden und objektive Kriterien des Strafrechts auszuhöhlen um damit die Gesetzlichkeit abzubauen. „Und tatsächlich bestimmen zu allen Zeiten die Richter durch ihre Interpretation bei Anwendung der Gesetze [...] deren Inhalt. In diesem Sinne übt der Richter eine Art gesetzgebender Funktion aus“[7], hatte Karl Liebknecht erkannt.

 

 

Juristische Gegenelite

 

Anfang der 30er Jahre gab es etwa 20 000 Rechtsanwälte in Deutschland. Ein Großteil der »furchtbaren Juristen«, die den Blutgerichten des deutschen Faschismus sekundierten, rekrutierte sich aus diesen Männern, die ihre politische Erziehung noch im Kaiserreich erhalten hatten und entsprechend antidemokratisch, republikfeindlich und national gesinnt waren. Ihnen stand eine kleine „juristische Gegenelite“ demokratisch gesonnener Anwälte entgegen, die regelmäßig oder auch nur in Einzelfällen politisch verfolgte Proletarier verteidigten und ihre Mandate von der Roten Hilfe Deutschlands vermittelt bekamen.[8] Wie ihre Standeskollegen stammten die Rechtsanwälte der Roten Hilfe aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Die junge Kommunistin und spätere DDR-Justizministerin Hilde Benjamin, die sich mit ihrer Verteidigung von Arbeitern nach den Straßenkämpfen des Berliner Blutmai 1929 schnell einen Namen machte, war eine der wenigen weiblichen Rechtsanwältinnen dieser Zeit, da das Jurastudium erst seit Gründung der Republik auch für Frauen offen stand.

In ihrer Mehrzahl waren die Anwälte der Roten Hilfe jüdischer Herkunft, und der latente bis offene Antisemitismus in Deutschland hatte sie zu energischen Verteidigern der demokratischen Errungenschaften gegen die rechten Gegner der Republik werden lassen. Politisch kamen die Anwälte aus einem breiteren Spektrum, das vom Anarchismus und Kommunismus über den Liberalismus bis zu Mitgliedern des Zentrums reichte. Der bekannte liberale Anwalt Alfred Apfel wurde von der Roten Hilfe in publikumsträchtigen Fällen wie dem literarischen Hochverratsprozeß gegen den Schriftsteller Johannes R. Becher, dem Wiederaufnahmeantrag des Revolutionärs Max Hoelz und der Verteidigung des mutmaßlichen Horst-Wessel-Mörders Ali Höhler engagiert. Als „Mann, der Hitler in die Enge trieb“ erlangte Hans Litten, der sich als „weit links von der KPD stehend“ bezeichnete, die Bewunderung der demokratischen Öffentlichkeit und den Haß der Nationalsozialisten. Beim Prozeß um den Überfall eines SA-Rollkommandos auf den Berliner Tanzpalast Eden gelang es Litten im Frühjahr 1931, Adolf Hitler persönlich als Zeugen vorzuladen und nachzuweisen, daß die Gewaltakte der SA einer planmäßigen Taktik ihres Führers entsprangen. Litten wurde noch in der Nacht des Reichstagsbrandes in „Schutzhaft“ genommen und 1938 im KZ Dachau in den Selbstmord getrieben. In der KPD organisierte Kommunisten bildeten eine Minderheit unter den Anwälten der Roten Hilfe. Oft arbeiteten kommunistische Anwälte in Bürogemeinschaften mit gleichgesinnten Kolleginnen und Kollegen. Auch ihre Sekretärinnen und andere Mitarbeiter bezogen sie dann aus dem Umfeld der Partei. So hatte sich in der Potsdamer Straße in Berlin eine Gruppe kommunistischer Anwälte um Artur Samter formiert, die als „Gruppe proletarisch gesinnter Juristen“ bekannt wurde.

 

Taktik vor Gericht

 

Diese kommunistischen Anwälte vertraten mehrheitlich die Einstellung, in jedem Fall offensiv aufzutreten und das Gericht als Tribüne des Klassenkampfes zu begreifen. So erläuterte Anwalt Rolf Helm aus Dresden seine Taktik: „Unter Ausnutzung vorhandener Lücken und Auslegungsmöglichkeiten im Strafgesetzbuch und in der Strafprozessordnung des bürgerlichen Klassenstaates deckte ich in jedem Verfahren die Scheinheiligkeit der sogenannten Justiz, den Klassencharakter der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Gerichte als Unterdrückungsinstrumente der Bourgeoisie auf. [...] Trotzdem habe ich mit meinem Prinzip bessere `Erfolge´, mehr Freisprüche oder Verhängung geringfügiger Strafen erzielt, als wenn ich nur mit Spitzfindigkeiten, Rabulistik oder - wie es viele Verteidiger taten - mit dem hilflosen Appell, `Gnade vor Recht ergehen zu lassen´, gearbeitet hätte.“ [9]  Nichtkommunistische Verteidiger stellten dagegen häufig mildernde Umstände wie Not, Krankheit, Aufhetzung oder Trunkenheit in den Vordergrund und nicht wie von der Roten Hilfe gefordert den Gegensatz zwischen der revolutionären Gesinnung der Angeklagten und der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Hier zeigte sich die schon von Lenin 1905 angesprochene Problematik. Bis Mitte 1929 hatte die RHD knapp 16000 inhaftierten Arbeitern juristischen Beistand und in weiteren 27000 Fällen Rechtsschutz gewährt. Hier beschränkte sich die Rechtshilfetätigkeit der Roten Hilfe abgesehen von wenigen Ausnahmen wie der breitangelegten Kampagne für die Freilassung des zu lebenslänglicher Zuchthaushaft verurteilten Sozialrebellen Max Hoelz weitgehend auf die Stellung von Rechtsanwälten für politisch verfolgte Arbeiter.

Mit dem zunehmenden Abbau demokratischer Grundrechte bei gleichzeitigem Anwachsen der faschistischen Bewegungen vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise in Deutschland stiegen ab 1929 die Rechtshilfeersuchen an die Rote Hilfe steil an. 1930 mußten schon Anwälte für 22 000 Angeklagte in 4771 Prozessen gestellt werden. Schon aus finanziellen Gründen konnte die Rote Hilfe nicht jedem Angeklagten einen Anwalt stellen. „Deshalb muß man den Sektionen die Aufgabe stellen, die angeklagten Revolutionäre so zu schulen, daß sie auch ohne Rechtsanwälte auskommen“[10], faßte Elena Stassowa die neue Taktik der politischen Rechtshilfe zusammen. Diesem Ziel diente die mit einer Gesamtauflage von 60.000 Exemplaren 1924 erstmals veröffentlichte Broschüre aus der Feder des KPD-Justitiars Felix Halle mit dem Titel „Wie verteidigt sich der Proletarier in politischen Strafsachen vor Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht?“[11] Halles Broschüre richtete sich vor allem an politisch Aktive, die zum ersten Mal verhaftet oder angeklagt wurden. Sie „will den proletarischen Genossen auf die Möglichkeiten hinweisen, die ihm im bürgerlichen Staat gegeben sind, sich bei strafrechtlichen Beschuldigungen und Anklagen gegenüber den Behörden, insbesondere den Gerichten dieses Staates zu verteidigen“[12] Darin heißt es: „Jeder wegen politischer Handlungen angeklagte Proletarier muß wissen, daß sein Kampf, mag es ein Prozeß von großer oder kleiner Bedeutung sein, ein Stück des großen allgemeinen revolutionären Kampfes darstellt. In jedem Stadium des Verfahrens, bei jeder öffentlichen und nichtöffentlichen Vernehmung durch Polizei, Staatsanwalt, Richter oder Militärbeamte muß er sich als Klassenkämpfer fühlen, und er muß jederzeit daran denken, daß er mit jeder Handlung und mit jedem Wort, das er abgibt, der großen Gemeinschaft seiner Klasse als Kämpfer verantwortlich ist.“[13] Daraus folgt, daß „für die Führung eines politischen Prozesses [...] nicht allein das Ergebnis, das in dem Urteil des bürgerlichen Gerichts liegt, maßgebend sein“ könne. Ein Proletarier, der sich einer revolutionären Bewegung angeschlossen hat, müsse unter Umständen im Interesse der Gesamtbewegung den Kampf vor Gericht ohne Rücksicht für sein persönliches Schicksal in aller Schärfe durchfechten, um die bürgerlichen Gerichte zu zwingen, ihre Klassenjustiz den breiten Massen möglichst deutlich vor Augen zu führen. In der Frage, ob ein Angeklagter offen seine politische Gesinnung äußern solle, forderte Halle Konsequenz: „In allen Sachen von Erheblichkeit muß ein Bekenntnis zur revolutionären  kommunistischen Bewegung in der Hauptverhandlung abgegeben und die Handlung als Teil des Klassenkampfes charakterisiert werden.“[14] Halle warnte zugleich davor, bei geringfügigen Anklagen unnötigerweise den „revolutionären Helden“ zu spielen, weil der Angeklagte außerhalb des Gefängnisses dringender gebraucht werde. Völlig abzulehnen sei es, sich durch Reuebekundungen die Gunst des Gerichts erkaufen zu wollen.

 

Massenverteidigung

 

„Es wird immer schwerer, die Grundlosigkeit der Anklage zu bewirken und deshalb fällt das Schwergewicht nicht darauf, daß wir Rechtsanwälte geben, sondern daß wir die Massen der Werktätigen zur Selbstverteidigung ausbilden“, führte Elena Stassowa auf dem IRH-Kongress 1932 aus, daß juristische Gründe vor den Gerichten immer weniger eine Rolle spielen. Daher gelte es eine mehrgliedrige Taktik aus juristischen, außerparlamentarischen und parlamentarischen Initiativen zu fahren. „Wir müssen die Prozesse auch für die Kampfzwecke ausnutzen, dafür sorgen, daß die Arbeiter dieses oder jenes Betriebes sich in die Verteidigung einmischen, daß Delegationen zum Gericht gehen, daß Demonstrationen vor den Gefängnissen organisiert werden usw. und daß dies alles mit Interpellationen in den Parlamenten verbunden wird.“[15] In einer Resolution des IRH-Weltkongresses heißt es dazu: „Wenn der politische Prozeß als eine Angelegenheit der Rechtsanwälte betrachtet wird, so führt dies naturgemäß zu einer Vernachlässigung gerade dieses Mittels der Massenaktion.“[16] Zu glauben, daß die Beweisführung eines Rechtsanwalts den Angeklagten retten kann, „heißt vergessen, daß das Gericht ein Klassengericht ist, daß das bürgerliche Gericht ein Werkzeug zur Abwürgung der Befreiungsbewegung der unterdrückten Klassen und Völker ist.“ „Die Verteidigungsrede eines Anwalts ist eine Predigt vor tauben Ohren, wenn sie sich nicht auf eine breite Solidaritätsaktion der Massen stützt, die allein imstande ist, den nötigen Druck auf das bürgerliche Klassengericht auszuüben.“[17] Als ersten müsse zur Mobilisierung der Massen ein Angeklagter durch Veröffentlichung seiner Biographie oder der seiner Angehörigen, in der Presse, durch Flugblätter, in öffentlichen Versammlungen und durch Resolutionen bekannt gemacht werden. „Die Richter müssen von einer wahren Flug von Protestbriefen von verschiedenen Organisationen, Persönlichkeiten usw. förmlich überschüttet werden. Das Echo der Versammlungen, der Straßendemonstrationen muß zu ihren Ohren dringen, in den Aktenstücken müssen sich Dutzende und Hunderte Solidaritätsresolutionen häufen, in denen den Richtern die Meinung der werktätigen Massen über den Fall, über den sie zu entscheiden haben, bekannt gegeben wird. [...] In dem Ort, wo der Prozeß stattfindet, sowie im Gerichtssaal selbst müssen die breiten Massen ihre Sympathie für die Angeklagten zum Ausdruck bringen.“[18]

 

Exemplarisch läßt sich die ab 1929 in Deutschland in einer Reihe von Fällen erfolgreich praktizierte Massenverteidigung am so genannten Röntgenstrassenprozeß in Berlin 1932 aufzeigen.[19] Am Abend des 29. August 1932 waren die Mitglieder einer kommunistischen Häuserschutzstaffel in Berlin-Charlottenburg aus einem Sturmlokal des berüchtigten SA-Sturms 33 in der Röntgenstrasse angegriffen worden. Dabei fielen mehrere Schüsse aus dem Lokal. Ein SA-Mann wurde tödlich getroffen, zwei weitere Faschisten verletzt. Nicht die Mitglieder des „Mordsturms 33“, sondern neun zumeist jungendliche Kommunisten saßen am 20.September auf der Anklagebank der ersten Strafkammer des Berliner Sondergerichts. Staatsanwaltschaftsrat Wagner beschuldigte die Männer, nach einem vorgefaßten Plan die SA-Taverne überfallen zu haben. Auf „Totschlag aus politischen Motiven“ stand nach drakonischen Strafverschärfungen zur Eindämmung politischer Gewalt durch eine Notverordnung der Reichsregierung die Todesstrafe. Die Rote Hilfe engagierte Anwalt Hans Litten als Verteidiger. Zum Auftakt der Röntgenstraßenkampagne nahmen drei Tage vor Eröffnung der Hauptverhandlung 1500 Zuhörer an einer „Kampfkonferenz gegen die faschistischen Sondergerichte“ in Berlin teil. Aus 60 von 400 eingeladenen Berliner Betrieben waren Vertreter gekommen. Neben Rechtsanwalt Litten sprachen unter anderem der stellvertretende Vorsitzende des Rechtsausschusses im Preußischen Landtag Erich Steinfurth von der KPD, Sepp Miller vom Vorstand der Roten Hilfe, der Anwalt und Mitbegründer der Sozialistischen Arbeiterpartei Kurt Rosenfeld, KPD-Justitiar Felix Halle sowie die Schriftsteller Ludwig Renn und Johannes R. Becher. Insgesamt fanden anläßlich des Röntgenstraßenprozesses 22 große öffentliche Kundgebungen und 15 Versammlungen der Roten Hilfe in Berlin sowie 15 Kundgebungen in Brandenburg statt, darunter auch zwei Jugendkundgebungen.  Zum Abschluß der Versammlungen, auf denen meist Anwälte der Roten Hilfe sprachen, wurde Delegationen gewählt, um dem Justizminister eine Protesterklärung zu überbringen. Betriebsversammlungen beschlossen einen Proteststreik im Falle der Verhängung von Todesurteilen.

Zu Prozeßbeginn forderten über 1000 Menschen vor dem Moabiter Gerichtsgefängnis lautstark die Freilassung der Angeklagten. Allein an diesem Tag verteilten Rote Helfer 150.000 Flugblätter. In den folgenden Wochen informierten eine in 18.000 Exemplaren gedruckte Prozeßzeitung sowie ein Extra-Pressedienst über den Verlauf des Verfahrens. Massenhaft gingen Protestschreiben aus Betrieben und Stempelstellen aus ganz Deutschland und dem Ausland beim Gericht ein. In Berlin und Umgebung wurden Unterschriften für die Freilassung der Angeklagten gesammelt. Ganze Häuserblocks schrieben sich in die Listen ein.

Für die Dauer des Prozesses waren lediglich zwei Tage angesetzt, doch die Rote Hilfe hatte über ihre Rechtsschutzkommissionen so viele Zeugen, darunter Passanten und Bewohner der umliegenden Häuser der Röntgenstrasse - ausfindig gemacht, daß der Prozeß auf 12 Tage ausgedehnt werden mußte. Mit Hilfe dieser Zeugen und dem Gutachten eines Ballistikers wies Verteidiger Litten schließlich nach, daß die Kommunisten von den SA-Männern überfallen worden und die tödlichen Schüsse aus der Waffe eines Nationalsozialisten abgegeben worden waren. Unter dem Eindruck der Zeugen zog der Staatsanwalt die Anklage wegen Todschlags zurück und beantragt nur noch Haftstrafen bis zu zehn Jahren wegen Landfriedensbruchs für fünf der Angeklagten. Der Richter erklärte dagegen am 6.Oktober, da eine Notwehrsituation nicht auszuschließen sei, falle auch der Vorwurf des Landfriedensbruchs weg und sprach alle neun Angeklagten frei. Welchen Einfluß das Engagement der Roten Hilfe auf den Verlauf des Prozesses hatte, belegt das Schlußplädoyer des Staatsanwalts, der beklagte, „daß eine gewisse Organisation vorhanden sei, die überall Mitgliederbesprechungen und öffentliche Versammlungen durchführt, um Entlastungszeugen herbeizuschaffen. Es seien Körbe von Resolutionen eingegangen. Wenn jetzt die Vorgänge in der Röntgenstraße nur noch in einem sehr unklaren Lichte erscheinen, so liegt dies daran, daß bereits breite Kreise durch die Organisation zu Gunsten der Angeklagten beeinflußt seien.“[20] Erst das Zusammenspiel von außergerichtlicher Massenmobilisierung durch die Rote Hilfe und kämpferischer Prozeßführung durch Anwalt Litten hatte es ermöglicht, am Vorabend des Faschismus die Angeklagten dem Schafott zu entreißen.

 

Erschien leicht gekürzt in Die Rote Hilfe 1.2010

 



[1] Die beiden Hauptfraktionen der illegalen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands SDAPD, die Bolschewiki und die Menschewiki, hatten damals ein revolutionär-marxistischen Selbstverständnis, unterschieden sich aber in Fragen der Strategie und Taktik.

[2] Lenin Werke Bd. 8, Berlin, 53-57.

[3] E.D. Stassowa: 14 Millionen – Die Armee der Solidarität, Berlin 1932, 37f.

[4] MEW 13, 8.

[5] E. Fraenkel: Zur Soziologie der Klassenjustiz (1927), in: ders. Zur Soziologie der Klassenjustiz und Aufsätze zur Verfassungskrise 1931-32, Darmstadt 1968, 16.

[6] Wolfgang Abendroth: Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, Frankfurt a.M./Köln 1975, 155.

[7]  Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. II., Berlin 1960, 19.

[8] Zu den Anwälten der Roten Hilfe siehe: Heinz Jürgen Schneider, Erika Schwarz, Josef Schwarz: Die Rechtsanwälte der Roten Hilfe Deutschlands, Bonn 2002

[9] Erinnerungen von Rolf Helm, 53, Bundesarchiv Berlin, SAPMO SGY 30/1313/1.

[10] E.D. Stassowa: 14 Millionen – Die Armee der Solidarität, Berlin 1932, 38.

[11] Felix Halle: Wie verteidigt sich der Proletarier in politischen Strafsachen vor Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht“, vierte Auflage, Berlin 1931, 6.

[12] Felix Halle: Wie verteidigt sich der Proletarier in politischen Strafsachen vor Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht“, vierte Auflage, Berlin 1931, 6.

[13] Ebda. 7.

[14] Ebda. 42.

[15] E.D. Stassowa: 14 Millionen – Die Armee der Solidarität, Berlin 1932, 38.

[16] Resolution des 1. Weltkongresses der IRH über die Organisierung der juristischen Hilfe, November 1932, in: Vor der Justiz des Feindes, Nachdruck durch die zentrale Leitung der Roten Hilfe Deutschlands, Dortmund 1975, 22-28, 24.

[17] Ebda. 16..

[18] Ebda. 18.

[19] Zum Röntgenstraßenprozeß und weiteren Beispielen der Massenverteidigung siehe: Nikolaus Brauns, Schafft Rote Hilfe!, Geschichte und Aktivitäten der proletarischen Hilfsorganisation für politische Gefangene in Deutschland (1919-1938), Bonn 2003;, 272f.

[20] ZV RHD, Bericht über die Zentral-Vorstands-Sitzung der RHD vom 30.Oktober 1932, Berlin, November 1932, Bundesarchiv Ba R 1501 (alt St 10) 211,1 Bl.267.