Aus: junge Welt Ausgabe vom 12.09.2020, Seite 15 / Geschichte

 

Washingtons Jungs

Vor 40 Jahren putschte die Armee in der Türkei – im Hintergrund zogen die USA die Fäden

 

Von Nick Brauns

 

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Um 23 Uhr in der Nacht auf den 12. September 1980 verließen Panzer und Mannschaftstransporter ihre Kasernen bei Ankara und bezogen in der türkischen Hauptstadt Position vor Regierungsgebäuden, Parteizentralen und Rundfunksendern. Um Viertel nach vier in der Früh erklärte Generalstabschef Kenan Evren die Regierung von Ministerpräsident Süleyman Demirel für abgesetzt. Rundfunksender gaben bekannt, dass »die Armee für das Wohl und die Unteilbarkeit des Landes die Macht übernommen« habe. Dieser dritte Militärputsch innerhalb von 20 Jahren prägt die Türkei bis heute.

Der Kampf gegen die Linken

In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre war die radikale Linke in der Türkei, die allerdings in sich auch untereinander bekämpfende Moskau-, Beijing- oder Tirana-treue sowie an lateinamerikanischen Guerillabewegungen orientierte Gruppierungen gespalten war, zur Massenbewegung angewachsen. Mitglieder der illegalen Kommunistischen Partei hatten im kämpferischen Gewerkschaftsbund DISK Führungspositionen errungen. Selbst innerhalb der Polizei bestanden kommunistische Zellen. Bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen den sozialistischen Gruppierungen, den faschistischen Grauen Wölfen und Islamisten kosteten bis zum Herbst 1980 rund 5.000 Menschenleben. Hinter den Attentaten gegen Linke, Massakern an Gewerkschaftern und Pogromen gegen Angehörige der alevitischen Glaubensgemeinschaft stand eine »Strategie der Spannung« des vom späteren Putschistenführer Evren geleiteten Amtes für spezielle Kriegführung. Dieser türkische Ableger der NATO-Konterguerilla Gladio sollte die Bevölkerung so auf die Errichtung eines autoritären Regimes vorbereiten.

Die im Herbst 1979 gebildete Minderheitsregierung der konservativen Gerechtigkeitspartei unter Ministerpräsident Demirel, die auf die Unterstützung von faschistischen und islamistischen Parteien angewiesen war, stand vor einer desolaten Wirtschaftslage mit hoher Auslandsverschuldung und enormem Handelsbilanzdefizit. Zur Abwendung eines drohenden Staatsbankrotts erhielt die Türkei Anfang 1980 einen Kredit über drei Milliarden Dollar vom Internationalen Währungsfonds (IWF). Diese Hilfe war an harsche Bedingungen geknüpft, wie die Aufhebung des Tarif- und Streikrechts, das Einfrieren der Löhne und Gehälter, Privatisierungen von Staatsbetrieben, Abwertung der Währung, Senkung der Staatsausgaben im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich sowie der Subvention von Lebensmitteln.

Massenentlassungen, Privatisierungen und eine Inflationsrate von über 100 Prozent führten zu einer riesigen Streikwelle. Bereits im Januar hatten Arbeiterinnen und Arbeiter den Agrarproduktionskomplex Taris bei Izmir besetzt. Zur Niederschlagung des Streiks durchbrach die Armee die Fabrikmauern mit Panzern. Im Juli zerschlug das Militär auch die Kommune von Fatsa. In der Kleinstadt am Schwarzen Meer hatten seit 1979 Volksräte unter Führung der Organisation »Devrimci Yol« (Dev-Yol, »Revolutionärer Weg«) die Macht ausgeübt. Trotz der Repression befanden sich im September landesweit etwa 50.000 Arbeiter im Streik. Weitere Hunderttausende Beschäftigte, die dem staatsnahen Gewerkschaftsdachverband Türk-Is angehörten, drohten unter anderem in der Autoindustrie und bei der Eisenbahn in den Ausstand zu treten. Deutlich wurde, dass das IWF-Programm ohne eine »eiserne Hand« nicht umzusetzen war.

Die treibende Kraft

Die politische Instabilität an ihrer Südostflanke erregte bei den NATO-Partnern Besorgnis. Der damalige Nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, Zbigniew Brzezinski, vertrat offen die Auffassung, dass für die Türkei »eine Militärregierung die beste Lösung wäre«. Zu Jahresbeginn hatten die USA mit Ankara ein Abkommen über die Errichtung und Nutzung von 26 Militärbasen und Spionagestationen geschlossen, auf denen Tausende US-Soldaten stationiert wurden. Die New York Times meldete, dass die türkischen Militärs versichert hatten, nicht ohne Einverständnis Washingtons zu handeln. Ein Sprecher des US-Außenministeriums bestätigte am 13. September gegenüber der Presse, dass die USA vorab über den geplanten Staatsstreich in der Türkei informiert worden waren. Dies war stark untertrieben: Washington war die treibende Kraft hinter dem Putsch. Zu dessen Absicherung fand ab dem 11. September das NATO-Manöver »Anvil Express« mit 3.000 Soldaten der Schnellen Eingreiftruppe im europäischen Teil der Türkei statt. »Unsere Jungs haben es geschafft«, meldete der damalige Leiter der Türkei-Abteilung im Nationalen Sicherheitsrat der USA, Paul B. Henze, nach dem erfolgten Staatsstreich seinem Präsidenten James »Jimmy« Carter Vollzug. Der Agent, der bis 1979 CIA-Stationsleiter in Ankara war, gilt als der Architekt des Putsches vom 12. September.

Nach dem Putsch konstituierte sich eine Junta aus dem Generalstab unter Evren. Das Kriegsrecht wurde verhängt, das Parlament aufgelöst und alle Parteien verboten. Streiks wurden für illegal erklärt und der Gewerkschaftsbund DISK aufgelöst. Gegen Linke, Gewerkschafter und kurdische Aktivisten begann eine Verhaftungswelle. Rund 650.000 Personen wurden festgenommen, ein Jahr später befanden sich noch 123.000 von ihnen in Haft, fast alle mussten Folter erleiden. 230.000 Angeklagte wurden vor Gericht gestellt. 517 Todesurteile wurden verhängt und davon 50 vollstreckt. Unter den Hingerichteten war auch der erst 17jährige Schüler Erdal Eren. Die Militärs setzten auf die Förderung religiöser Institutionen, um linkes Gedankengut zurückzudrängen. Auch die Staatsbürokratie öffnete sich nun für Anhänger islamischer Sekten wie der Gemeinde des strikt antikommunistischen Predigers Fethullah Gülen, der den Putsch jubelnd begrüßt hatte.

Mit der Annahme eines Referendums über eine von der Junta vorgelegte autoritäre Verfassung begann 1982 der Übergang von der offenen Militärdiktatur zur »gelenkten Demokratie« unter General Evren als Staatspräsident. Das in der Verfassung festgeschriebene Verbot anderer Sprachen als des Türkischen, die Zehnprozenthürde für Parlamentswahlen, die Aufsichtsbehörde für die Hochschulen und ein Zensurgremium für Rundfunk und Fernsehen sowie strikte Reglementierungen der Gewerkschaften haben bis heute Bestand. Aus den Parlamentswahlen vom November 1983 ging die konservative Mutterlandspartei des früheren Weltbankmitarbeiters Turgut Özal, der das IWF-Anpassungsprogramm mit ausgearbeitet hatte, als Siegerin hervor. Während die Arbeiterbewegung am Boden lag, leitete Özal die neoliberale Wende der Türkei vom Protektionismus zur Weltmarktöffnung ein.

 

Deutsche Schützenhilfe

Die Putschisten in Ankara konnten auch auf die Unterstützung der Bundesrepublik bauen. Schon die Aushandlung des Drei-Milliarden-Dollar-Kredits des IWF zur Abwendung eines drohenden Staatsbankrotts der Türkei als einem wichtigen BRD-Wirtschaftspartner war zu Jahresbeginn 1980 vom damaligen niedersächsischen Finanzminister Walther Leisler Kiep (CDU) und dem Bundesfinanzminister Hans Matthöfer (SPD) koordiniert worden. »Er hoffe auf einen heilsamen Schock, aus dem ein Arrangement hervorgehe, an dem sowohl die demokratischen Kräfte als auch die Armee beteiligt seien«, zitiert die FAZ den Bundesfinanzminister am Tag nach dem Putsch, der im Rahmen eines NATO-Manövers im europäischen Teil der Türkei auch von Soldaten der Bundeswehr abgesichert worden war. Das erste internationale Abkommen, das die Junta unterzeichnete, war ein Vertrag mit der sozialliberalen Bundesregierung über Polizeihilfe im Wert von 15 Millionen D-Mark. Noch im Dezember 1980 wurden die ersten 27 Polizeifahrzeuge ausgeliefert. Eine Delegation des Bundestages unter Leitung des CDU-Abgeordneten Alois Mertes kam nach einer Türkei-Reise im März 1981 zu dem Ergebnis, dass sich die Militärs auf die Zufriedenheit der Bevölkerung stützen könnten. Es gäbe »keine systematische Folter«, versicherten die Bundestagsabgeordneten nach dem Besuch eines vom Militär sorgfältig präparierten Gefängnisses. »Die deutschen Parlamentarier haben die Feinde der Türkei widerlegt«, jubelte das nationalistische Massenblatt Hürriyet … (nb)