Junge Welt 19.11.2011 / Geschichte / Seite 15

Arbeit oder Tod

Vor 180 Jahren: In Lyon revoltieren die Seidenweber

Von Nick Brauns

 

Mit der Pariser Julirevolution von 1830 hatte das Volk von Paris die Errungenschaften der Revolution von 1789 gegen die aristokratische Restauration verteidigt. Doch hinter dem nun regierenden »Bürgerkönig« Louis-Philippe I. stand die Finanzaristokratie. Der Liberalismus des Julikönigtums entpuppte sich als Herrschaft des freien Marktes. Arbeiter wehrten sich immer öfter mit Lohnstreiks gegen ihre Herren, für die sie zuvor in Barrikadenkämpfen die Kastanien aus dem Feuer geholt hatten. Ihre Forderungen nach Lohnerhöhung und gewerkschaftlicher Organisierung wurden von der Regierung als ungesetzlich zurückgewiesen, da sie »dem Prinzip der Freiheit und der gewerblichen Tätigkeit« widersprächen.

Die mit rund 165000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Frankreichs, ­Lyon, war das Zentrum der Seidenherstellung. Eine kleine Oberschicht von knapp 400 Handelskapitalisten ließ die Rohstoffe in den Manufakturen von 9000 Meistern bearbeiten, die 30000 Lohnarbeiter beschäftigten. Als die Seidenpreise unter dem Druck ausländischer Konkurrenz einbrachen, wälzten die Fabrikanten ihre Verluste auf die Produzenten ab, die bei einem 15stündigen Arbeitstag ohne Pausen einen Verdienst unter dem amtlichen Existenzminimum erhielten. Im Herbst 1831 wurde unter den Seidenwebern der Ruf nach einer dauerhaften Festsetzung eines Stücklohntarifs laut. Auf Initiative des noch aus der napoleonischen Zeit stammenden Lyoner Präfekten Bouvier-Dumolard fanden am 25. Oktober Tarifverhandlungen statt. Das Tarifabkommen wurde von den unter dem Banner der Trikolore vor der Präfektur ausharrenden Arbeitern begeistert gefeiert. Doch rund ein Viertel der Lyoner Fabrikanten protestierten vor der Nationalversammlung gegen diesen Eingriff in ihre unternehmerische Freiheit. Unter dem Druck von Regierungsvertretern machte nun auch der Lyoner Präfekt einen Rückzieher und nannte das Abkommen eine bloße Ehrenverpflichtung ohne Gesetzeskraft. Weiter zahlten viele Unternehmer willkürliche Hungerlöhne. Arbeiterdelegationen empfingen sie mit der Pistole und drohten ihnen. »Wenn sie kein Brot im Bauch haben, so wollen wir ihnen Bajonette hineinstecken

Der Aufstand beginnt


Die Seidenweber beschlossen, in einen einwöchigen Streik für ihre Forderung nach Mindesttarifen zu treten. Am ersten Streiktag, Montag, 21. November, zogen mehrere hundert mit Stöcken bewaffnete Arbeiter aus der Vorstadt Croix-Rousse in die Werkstätten, um zur Arbeitsniederlegung aufzurufen. Ein Trupp Nationalgardisten, der sich den Arbeitern mit Bajonetten entgegenstellte, wurde umzingelt und entwaffnet. Doch als die bald angewachsene Menge in die Stadt strömen wollte, wurde sie von einer anderen, diesmal aus den Angehörigen der Fabrikanten gebildeten Einheit der Nationalgarde beschossen. Diese Schüsse, durch die acht Arbeiter getötet wurden, waren der eigentliche Auslöser für den ersten bewaffneten Arbeiteraufstand der Weltgeschichte. Unter einer schwarzen Fahne mit der Losung »Arbeitend leben oder kämpfend sterben« versammelten sich nun Tausende mit Knüppeln, Mistgabeln und Jagdflinten bewaffnete Proletarier. Anrückende Truppen wurden von den Anwohnern unter dem Ruf »Arbeit oder Tod« mit Steinen und Ziegeln beworfen. Die Armee nahm nun die Arbeiterviertel unter Beschuß, bis ein von den Aufständischen gefangengenommener General zum vorläufigen Rückzug der Truppe rief.

Am folgenden Tag erhoben sich auch die Arbeiter der anderen Vorstädte. Ihnen schlossen sich solche Einheiten der Nationalgarde, die sich aus dem Kleinbürgertum rekrutierten, mit ihren Waffen an. Die Arbeiter eroberten Waffendepots und marschierten trotz Beschusses durch Linientruppen und die in ihren Villen verschanzten Fabrikanten von den höher gelegenen Vororten auf das Stadtzentrum zu. Am Abend des 22. November war die Kampfmoral vieler Soldaten gebrochen. Nach den Erfahrungen der Julirevolution, wo sich Linientruppen dem Volk angeschlossen hatten, waren viele von ihnen nicht bereit, nun auf hungernde Arbeiter zu feuern.

Am 23. November um zwei Uhr morgens besetzten die Arbeiter das Stadthaus und übernahmen damit offiziell die Kontrolle über Lyon. Entgegen der Befürchtungen der Unternehmer folgen weder Chaos noch Rache. Der weiterhin als Hoffnungsträger der Proletarier geltende Präfekt und alle Behörden wurden im Amt belassen und von Arbeitermilizen bei der Aufrechterhaltung der Ordnung unterstützt. Banken wurden geschützt und Plünderern mit der Todesstrafe gedroht. Auch die Arbeit in den Seidenwerkstätten wurde wieder aufgenommen.

Blutige Rache


Das Ziel des Aufstandes, der rund tausend Tote und Verwundete auf beiden Seiten gekostet hatte, war ein Tarifvertrag. Ein darüber hinausgehendes politisches Programm zum Sturz der Monarchie hatten die Lyoner Arbeiter, die Karl Marx später als unbewußte »Soldaten des Sozialismus« beschrieb, noch nicht. Die als Repräsentantin der aufständischen Seidenweber auftretende Tarifkommission versicherte König Louis-Philippe ihre absolute Ergebenheit. Doch Innenminister Casimir Périer erklärte, daß sich der Aufstand gegen »die Freiheit des Handels und des Gewerbes« richte und ordnete die militärische Besetzung von Lyon an. Nachdem die Aufständischen im Vertrauen auf die königliche Gerechtigkeit ihre Waffen freiwillig abgegeben hatten, rückten ab dem 3. Dezember Zehntausende Mann Regierungstruppen in die Stadt ein und übten blutige Rache. 10000 nicht in Lyon gebürtige Arbeiter wurden aus der Stadt ausgewiesen. Dafür mußten von nun an 20000 Besatzungssoldaten von der Stadt ernährt werden, die zuvor schon kein Brot für ihre hungernden Proletarier gehabt hatte. Die Tariflöhne wurden abgeschafft und der Präfekt abgesetzt.

Ihr Ziel hatten die Seidenweber von Lyon nicht erreicht. Doch das erste Mal hatten bewaffnete Arbeiter eine reguläre Armee besiegt und eine ganze Stadt eingenommen. Dies und auch ihre den Charakter des Staates als Unterdrückungsinstrument der Großbourgeoisie entlarvende Niederlage förderten die Herausbildung von Klassenbewußtsein und einen Aufschwung der Arbeiterkämpfe im ganzen Land. Bereits im April 1834 brach ein erneuter, unter wesentlich politischeren Losungen geführter Aufstand in Lyon aus, der sich gegen das Verbot von Arbeiterzusammenschlüssen und die Verurteilung von Streikführern richtete. Nach einer »blutigen Woche« mit Hunderten Toten unter der Arbeiterschaft eroberte die Armee mit massiver Gewalt die Stadt zurück.

»Der Lyoner Aufstand hat ein schwerwiegendes Geheimnis enthüllt: nämlich das der inneren Kämpfe, die in der Gesellschaft zwischen der besitzenden und der besitzlosen Klasse stattgefunden haben«, zog der Historiker Saint-Marc Giradin im Journal des Débats vom 8. Dezember 1831 vom Standpunkt der Finanzaristokratie aus die Lehren aus den Geschehnissen. Giradin warnte insbesondere die Mittelklasse vor Zugeständnissen an die »proletarische Flut«, denn »die Barbaren, die die Gesellschaft bedrohen, sind keineswegs im Kaukasus oder in den Steppen der Tartarei zu suchen, sie leben in den Vorstädten unserer Manufakturstädte«. Dagegen verkündete der wegen revolutionärer Geheimbündelei im Januar 1832 vor Gericht stehende utopische Sozialist Auguste Blanqui von der Anklagebank aus: »Jawohl, meine Herren, dies ist der Krieg zwischen Reichen und Armen; die Reichen haben es so gewollt, denn sie sind die Angreifer

 

Quelle:

Ludwig Börne über den Krieg der Armen gegen die Reichen

Kasimir Périer (ab März 1831 bis Mai 1832 Ministerpräsident und Innenminister Frankreichs, d. Red.) hat darüber frohlockt, daß in den blutigen Geschichten von Lyon gar nichts von Politik zum Vorschein gekommen, und daß es nichts als Mord, Raub und Brand gewesen! Es sei nichts weiter als ein Krieg der Armen gegen die Reichen, derjenigen, die nichts zu verlieren hätten, gegen diejenigen, die etwas besitzen! Und diese fürchterliche Wahrheit, die, weil sie eine ist, man in den tiefsten Brunnen versenken müßte, hielt der wahnsinnige Mensch hoch empor und zeigte sie aller Welt! […] Es ist wahr, der Krieg der Armen gegen die Reichen hat begonnen, und wehe jenen Staatsmännern, die zu dumm oder zu schlecht sind zu begreifen, daß man nicht gegen die Armen, sondern gegen die Armut zu Felde ziehen müsse. Nicht gegen den Besitz, nur gegen die Vorrechte der Reichen streitet das Volk; wenn aber diese Vorrechte sich hinter dem Besitze verschanzen, wie will das Volk die Gleichheit, die ihm gebührt, anders erobern, als indem es den Besitz erstürmt

Der deutsche Journalist Ludwig Börne über den Lyoner Aufstand, in: Briefe aus Paris. Sechzigster Brief, 1.12.1831