Wende im Mordfall Dink

Türkei: Mörder von armenischem Journalisten benennt Polizeichefs aus Gülen-Bewegung als Hintermänner

Von Nick Brauns

Fast acht Jahre nach dem Mord an dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink hat der damalige Todesschütze jetzt zwei frühere Polizeichefs als Hintermänner seines Anschlags benannt. Der zum Tatzeitpunkt 17jährige Ogün Samast, ein Mitglied der religiös-faschistischen Großen Einheitspartei BBP, hatte Dink im Januar 2007 vor dem Verlagsgebäude der armenischen Wochenzeitschrift Agos in Istanbul erschossen.

Samast wurde 2012 als angeblicher Einzeltäter zu mehr als 22 Jahren Haft verurteilt. Später wurde noch ein weiterer BBP-Anhänger, Yasin Hayal, als Anstifter der Tat zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Ermittlungen gegen 18 weitere Angeklagte wurden dagegen eingestellt, obwohl zahlreiche von den Anwälten der Familie Dink vorgelegte Indizien für eine tief in den Staatsapparat hineinreichende Verschwörung sprachen.

Samast beschuldigte nach Informationen der Zeitung Hürriyet Daily News von Mitte dieser Woche nun den früheren Polizeichef seiner Heimatstadt Trabzon, Ramazan Akyürek, sowie den damaligen Chef des Polizeinachrichtendienstes in Istanbul, Ali Fuat Yilmazer, als die wahren Hintermänner und sagte: »Sie haben mich den Mord ausführen lassen.« Hayal habe ihm versichert, dass diese Polizeioffiziere auf ihrer Seite ständen.

Beide Polizisten waren im Sommer im Zuge der Ermittlungen gegen Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen wegen Bildung einer staatsfeindlichen Organisation in Untersuchungshaft genommen worden. Er habe bislang geschwiegen, um sein Leben zu schützen, doch nun sei das Netzwerk der Gülen-Anhänger in der Polizei geschwächt, nannte Samast als »Zeuge« nach Informationen der regierungsnahen Tageszeitung Sabah in dem bereits am 5. Dezember stattgefundenen Verhör vor der Staatsanwaltschaft als Grund, sein Schweigen zu brechen.

Infolge des Machtkampfes zwischen der regierenden islamisch-konservativen Partei AKP und der tief im Staatsapparat verankerten pantürkisch-islamischen Gülen-Bewegung waren die Ermittlungen gegen mehrere Beamte wegen Vertuschung im Mordfall Dink wiederaufgenommen worden.

Nachdem der damalige Ministerpräsident und jetzige Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und die Gülenisten gemeinsam ihre laizistischen Gegner im Staatsapparat in fingierten Schauprozessen unter dem Vorwurf der Bildung einer »Ergenekon« genannten Putschistenloge ausgeschaltet hatten, war es im vergangenen Jahr zum Zerwürfnis über die Verteilung von Pfründen, aber auch über politische Fragen gekommen. Auf Erdogans Ankündigung, Tausende als Rekrutierungsbasis des Gülen-Netzwerkes dienende Nachhilfeschulen zu schließen, starteten der Bewegung nahestehende Staatsanwälte Mitte Dezember vergangenen Jahres ein Korruptionsermittlungsverfahren gegen führende AKP-Politiker, darunter mehrere Minister und ein Sohn Erdogans. Erdogan sprach von einem Putschversuch aus den Tiefen eines »Parallelstaates«. Während die Ermittlungen niedergeschlagen und die zuständigen Staatsanwälte abgelöst wurden, ließ die AKP-Regierung im Kampf gegen diesen »Parallelstaat« Tausende Beamte versetzen. Dutzende Polizeioffiziere wurden in den letzten Monaten unter dem Vorwurf der Spionage und Verschwörung inhaftiert.
Zudem ließ der Leiter der Abteilung für Terrorismusbekämpfung im Nationalen Polizeipräsidium die Provinzpolizeipräsidenten mögliche Verwicklungen der Gülen-Bewegung in eine Reihe von Morden an Christen während der Jahre 2006 und 2007 überprüfen. Außer Dink waren damals drei Missionare in Malatya und der Priester Santoro in Trabzon durch jugendliche Faschisten ermordet worden. Mögliches Motiv für die Gülen-Bewegung könnte die Fälschung von »Beweisen« für die Existenz der Geheimloge Ergenekon sein, in deren angeblichem Putschplan die Ermordung von Christen enthalten gewesen sei.
Zwar ist nicht auszuschließen, dass die nun mit Erdogan-Getreuen besetzte Staatsanwaltschaft den Dinks Mörder Samast zu belastenden Aussagen gegen Gülen-Anhänger bewegen will. Doch bereits 2009 hatte der Recherchejournalist Nedim Sener enthüllt, wie dieser Bewegung nahestehende Polizisten und Justizangestellte die Ermittlungen im Mordfall Dink systematisch behindert hatten. Aufgrund seiner Enthüllungen wurde Sener für ein Jahr unter dem Vorwurf, an Ergenekon beteiligt zu sein, in Untersuchungshaft genommen.

Junge Welt 12.12.2014