Junge Welt 28.01.2012 / Geschichte / Seite 15

Wiedergeburt der Partei

1912 konstituierten sich die Bolschewiki zur eigenständigen Partei

Von Nick Brauns

Als Reaktion auf den revolutionären Aufschwung des Jahres 1905 in Rußland hatte der Zar im folgenden Jahr erstmals die Wahl einer Reichsduma ermöglicht. Hatte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) diese erste Duma noch als »Scheinparlament« boykottiert, so zogen 1907 auch einige Sozialdemokraten und radikale Bauernvertreter in die zweite Reichsduma ein. Angesichts einer zunehmenden sozialrevolutionären Agitation löste die Regierung von Premierminister Pjotr Stolypin am 3. (16.) Juni 1907 das Parlament in einem staatsstreichartigen Akt auf. Ein neues Wahlgesetz beschnitt die Rechte der Arbeiter und Bauern massiv, um ein dem Großgrundbesitzer Stolypin genehmes Parlament zur Unterstützung seiner auf eine Stärkung der Großbauern zielenden Reformen zu ermöglichen. Stolypin verhängte das Kriegsrecht, die Gefängnisse füllten sich, Tausende Todesurteile wurden verkündet und 3500 Menschen mit dem Galgen – der »Stolypinschen Krawatte« – hingerichtet.

Flügelkämpfe


Die Schläge trafen die Arbeiterbewegung hart. Hatte die SDAPR auf ihrem Vereinigungskongreß 1906 fast 150000 Mitglieder und im folgenden Jahr noch 100000 in ihren illegalen Parteikomitees gezählt, so waren es 1910 höchstens 10000. Viele Komitees hatten sich aufgelöst oder verharrten in Apathie, die Parteiführung war durch Verhaftungen und Linienkämpfe handlungsunfähig. Während ein ultralinker Flügel der Bolschewiki um Alexander Bogdanow angesichts der Repression jede Form legaler Arbeit ablehnte und für einen Boykott der Dumawahlen eintrat, verlagerten viele menschewistische Intellektuelle ihre Aktivitäten ausschließlich auf Erlaubtes wie die Arbeit in Bildungsvereinen und Gewerkschaften. Um dies nicht zu gefährden, traten rechte Menschewiki sogar für die Auflösung der illegalen Parteistrukturen und die Bildung eines ideologisch nicht gebundenen Arbeiterkongresses anstelle der sozialdemokratischen Partei ein. Der linke Flügel der Menschewiki um Julius Martow widersetzte sich zwar einer solchen Totalliquidation, forderte aber eine Gleichberechtigung zwischen legalen und illegalen Parteistrukturen. »Die ›Gleichberechtigung‹ des von der Polizei gehetzten illegalen Sozialdemokraten mit dem Legalisten, der gesichert ist durch seine Legalität und seine Losgelöstheit von der Partei, ist in Wirklichkeit eine ›Gleichberechtigung‹ des Arbeiters mit dem Kapitalisten«, spottete Lenin. »In der gegenwärtigen Epoche ist die illegale Partei als Summe von Parteizellen, die von einem Netz legaler und halblegaler Arbeitervereinigungen umgeben sind, der einzig richtige Typ des Organisationsaufbaus Eine Beschränkung auf legale Aktionsformen hieße, unter Aufgabe des republikanischen Ziels nur noch für die Umwandlung des Zarismus in eine konstitutionelle Monarchie einzutreten. Doch gerade um Presse-, Vereins-, Versammlungs- und Streikfreiheit zu erreichen, sei eine radikale Änderung des politischen Systems erforderlich.

Angesichts der harten Schläge gegen die Gesamtpartei drängten auch große Teile der Bolschewiki auf eine Versöhnung mit den Menschewiki. Ein Plenum des Zentralkomitees beschloß Anfang 1910 in Paris gegen Lenin und seinen engsten Mitkämpfer Gregori Sinowjew die erneute Einheit der zerstrittenen Partei herbeizuführen. Doch während die Bolschewiki mit dem Ausschluß ihres ultralinken Flügels um Bogdanow ihren Teil der in Paris getroffenen Abmachung eingelöst hatten, weigerten sich die Menschewiki, gänzlich mit den Liquidatoren zu brechen, da die legalistische Haltung in ihren Reihen zu verbreitet war. Unerwartete Unterstützung bekam Lenin vom zaristischen Geheimdienst Ochrana, der, über seine Spitzel bestens über die Linienkämpfe informiert, gezielt die »Versöhnler« innerhalb der Bolschewiki verhaften ließ, um eine vereinigte Partei zu verhindern. Der Georgier Grigori Ordschonikidse, der im Sommer 1911 auf einer von Lenin und Sinowjew initiierten bolschewistischen Schulung in Paris ausgebildet worden war, blieb so als einziger der zur Vorbereitung einer Parteikonferenz nach Rußland geschickten Kader in Freiheit und bildete nach mehrmonatiger Arbeit eine Russische Organisationskommission (ROK). Obwohl es nur von einer SDAPR-Minderheit anerkannt wurde und sich kein Mitglied des auf dem Papier noch amtierenden Zentralkomitees daran beteiligte, beanspruchte das ROK, im Namen der Gesamtpartei zu sprechen. Alle »echten« Anhänger wurden zu einer am 18. Januar 1912 in Prag zusammentretenden Konferenz aufgerufen.

Lenins Putsch


14 stimmberechtigte Delegierte – darunter zwei Polizeispitzel – vertraten zehn Parteikomitees. In Anbetracht des durch konterrevolutionäre Stimmungen und Repression hervorgerufenen Verfalls der meisten dieser Gliederungen und der Abwesenheit eines funktionierenden Zentralkomitees einerseits sowie der Unterstützung von über 20 bestehenden Parteiorganisationen für das ROK andererseits konstituierte sich die Versammlung selbst zur VI. Allrussischen Parteikonferenz und damit zum höchsten Organ der SDAPR.

Die gar nicht erst eingeladenen Menschewiki um die Zeitungen Nascha Sarja und Delo Schisni wurden kurzerhand nicht zur Partei gehörig erklärt. In der Resolution hieß es: »Die Konferenz ruft alle parteitreuen Sozialdemokraten – ohne Unterschied der Strömungen und Schattierungen – auf, gegen das Liquidatorentum zu kämpfen, seine ganze Schädlichkeit für die Sache der Befreiung der Arbeiterklasse herauszustellen und alle Kräfte einzusetzen für den Wiederaufbau und die Konsolidierung der illegalen SDAPR Die Versammlung in Prag wählte ein neues Zentralkomitee, dem ausschließlich Bolschewiki aus Lenins engstem Umfeld angehörten. Neben ihm, der als zuvor nicht stimmberechtigter Kandidat des ZK in das Führungsgremium aufrückte, waren dies unter anderem Sinowjew, Ordschonikidse, der Armenier Suren Spandarian und der später als Polizeiagent entlarvte Roman Malinowski. Josef Stalin und Jakow Swerdlow, die sich noch in der Verbannung befanden, wurden kooptiert. Die Konferenz beschloß eine Teilnahme der Partei an der kommenden Dumawahl unter den Losungen demokratische Republik, Einführung des Achtstundentages sowie Enteignung der Großgrundbesitzer.

Endlich sei es gelungen, trotz der »liquidatorischen Schufte« die Wiedergeburt der Partei und ihres Zentralkomitees herbeizuführen, berichtete Lenin anschließend dem Schriftsteller Maxim Gorki vom Erfolg. Die Bolschewiki hatten sich durch den Ausschluß der Menschewiki zur selbständigen Partei unter dem Namen der SDAPR formiert. Fortan führte sie den Zusatz (B) für Bolschewiki.

Formaldemokratisch handelte es sich bei der Prager Konferenz um einen Putsch Lenins gegen die bestehenden Parteistrukturen, wie den Menschewiki nahestehende Historiker bemerkten. Doch die Geschichte gab Lenin recht. Unter bolschewistischer Führung verzeichnete die zuvor in rapider Auflösung befindliche Untergrund-SDAPR vor dem Hintergrund eines Aufschwungs der Klassenkämpfe im Zarenreich ein schnelles Wachstum. »Während sich der bolschewistische Flügel der Partei, durch eiserne Disziplin und Entschlußkraft zusammengeschweißt, in eine Schlachtphalanx verwandelt hatte, zerfielen die Reihen der Menschewiki immer mehr durch Streit und Apathie«, resümierte auch der führende Menschewik Theodore Dan rückblickend die Periode von 1907 bis 1912.

 

Hintergrund: Bolschewiki und Menschewiki

Die 1898 aus verschiedenen marxistischen Zirkeln zusammengeschlossene Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) hatte sich auf ihrem zweiten Parteitag 1903 wegen des Statuts gespalten. Während der aufgrund einer zufälligen Abstimmungsniederlage fortan als Menschewiki (Minderheitler) bezeichnete Parteiflügel um Julius Martow für eine breite Mitgliederpartei nach dem Vorbild der deutschen SPD eintrat, befürworteten die Bolschewiki (Mehrheitler) entsprechend Lenins Ausführungen in »Was tun?« eine konspirativ arbeitende Kaderpartei.

Nach der bürgerlichen Revolution von 1905, in der die Menschewiki eine aktivere Rolle gespielt hatten, kam es im April 1906 zu einem Vereinigungsparteitag beider Fraktionen sowie sozialistischer Parteien unterdrückter Nationalitäten wie dem jüdischen Arbeiterbund. Die weiter bestehenden organisatorischen Differenzen verschärften sich in den folgenden Jahren zu strategischen. Während die Menschewiki ein Reformbündnis mit dem schwachen liberalen Bürgertum befürworteten, setzten die Bolschewiki auf den Sturz des Zarismus durch eine Allianz der Arbeiterklasse mit der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit.