Aus: junge
Welt Ausgabe vom
03.03.2015, Seite 10 / Feuilleton
Stimme Anatoliens
Zum Tod des Schriftstellers Yasar Kemal
Von Nick
Brauns
„Eine der Hochebenen
ist mit Disteln übersät – Dikenlidüzü. Dort gibt es
fünf Dörfer. Aber niemand dort besitzt auch nur einen Fußbreit Land. Alles Land
gehört Abdi Aga. Die Dikenlidüzü ist eine Welt für
sich mit ihren eigenen Gesetzen und Bräuchen, ganz abseits von der übrigen Welt.« – Hier an den Hängen des Taurusgebirges
im Südosten der Türkei ist die Heimat von Memed, dem
schmächtigen Bauernjungen, der aus Liebe zu einem Mädchen auf den
Großgrundbesitzer schießt und als Räuber und Rächer seines Volkes in die Berge
flieht. Der Autor des Romans »Memed mein Falke«,
Yasar Kemal, ist am Samstag im Alter von 91 Jahren in einer Istanbuler Klinik
verstorben. 20 in bis zu 40 Sprachen übersetzte Romane machten ihn zum
Chronisten des ländlichen Anatolien, der Elenden und Geschundenen, aber auch
der Rebellen. Und er war das literarische Gewissen eines von Massakern,
Vertreibungen und einer rassistischen Staatsideologie geprägten Landes.
Im Monat von
Kemals Geburt wurde die Republik Türkei ausgerufen. Zur Welt kam er als Kind
kurdischer Zuwanderer im Dorf Hemite (heute Gökcedam) in der südostanatolischen Provinz Adana. Seinen
Geburtsnamen Kemal Sadik Gökceli sollte er in den
50er Jahren ablegen. Der Vater war ein während des Krieges aus Van
umgesiedelter Großgrundbesitzer, die Mutter entstammte einer Brigantenfamilie. Bei einem Unfall mit einem Messer verlor
er ein Auge. Der fünfjährige Kemal musste mit ansehen, wie sein Vater im Zuge
einer Familienfehde beim Beten in einer Moschee erstochen wurde. Das
traumatisierte den Jungen so, dass er seine Stimme verlor. Er erlangte sie
durch das Singen alter Balladen zurück. Solche von wandernden Sängern
vorgetragenen Erzählungen über edle Räuber, tapfere Krieger und unglückliche
Liebe prägten später sein Werk.
In seiner
Jugend ernährte Kemal als Baumwollpflücker, Traktorfahrer oder Hirte die
verarmte Familie. Schließlich zog er, der als einziges Kind im Dorf eine Schule
besucht hatte, mit einer alten Schreibmaschine übers Land, um gegen Entgelt
Briefe und Bittschriften für die Bauern zu verfassen. »Ich war ein kleiner
schmächtiger Junge in schwarzen Pluderhosen mit gelben Heften in der Hand, der
alles aufschrieb, was da gesungen wurde«, berichtete Kemal einmal über den
Stoff seiner ab den 50er Jahren in Istanbul veröffentlichten Reportagen und
Romane. Der Debütroman »Memed mein Falke« (1955)
machte ihn zum meistgelesenen Schriftsteller der Türkei. Zur Titelfigur wurde
er durch seinen Onkel Mayro inspiriert, der als
Brigant in die Berge gegangenen war – »der bekannteste Gesetzlose in
Ostanatolien, dem Iran und dem Kaukasus«.
Seine
schriftstellerische Tätigkeit bezeichnete Kemal einmal als »Dienst am
Proletariat«. Ab 1962 engagierte er sich in der Türkischen Arbeiterpartei, der
ersten legalen sozialistischen Partei des Landes. 1971 erklärte er: »Ich stehe
gegen diejenigen, die das Volk unterdrücken und ausbeuten; egal ob diese
Unterdrückung vom Feudalismus oder der Bourgeoisie herrührt. Wer auch immer das
Glück des Volkes verhindert, dem widerstehe ich mit meiner Kunst und mit meinem
ganzen Leben.« Dabei blieb er, der bitterste Armut
erlebt hatte, wachsam gegenüber Karrieristen und Bürokraten, »die im Namen der
Arbeiter an die Macht kommen wollen« und forderte, dass die Arbeiter sich ihren
eigenen Staat schaffen müssten.
Aus seiner
kurdischen Herkunft machte Kemal kein Geheimnis, stellte sie aber nicht in den
Vordergrund. »Ich bin ein türkischer Schriftsteller kurdischen Ursprungs«,
pflegte er zu sagen. Als die Armee im Krieg gegen die Guerilla Tausende Dörfer
zerstörte, wandte sich Kemal 1995 in einem Beitrag für den Spiegel
scharf gegen diesen »niederträchtigen Krieg«. Ein Gericht verurteilte ihn zu 20
Monaten Haft, da er »zu Hass angestachelt und Rassismus propagiert« habe. Diese
Strafe wurde später ausgesetzt, aber Kemal saß mehrmals in türkischen
Gefängnissen.
1972 wurde
Kemal für den Nobelpreis nominiert, 1997 erhielt er den Friedenspreis des
Deutschen Buchhandels, die höchste literarische Auszeichnung der BRD. »In Yasar
Kemals Büchern ist die Darstellung des Rassenwahns als Ausdruck offizieller
Regierungspolitik kenntlich. Deshalb ist der Autor den Herrschenden lästig«,
erklärte der Laudator und Freund Günter Grass. Als
Kemal 2008 den »Große Kulturpreis« des türkischen Staatspräsidenten
entgegennahm, war ihm das ein Zeichen dafür, dass in der Türkei »der Kampf für
Frieden und Menschenrechte nicht mehr marginalisiert wird«. Versöhnt mit dem
Staat war er deshalb nicht. Die landesweiten Proteste im Sommer 2013 begrüßte
er aus vollem Herzen. Mit seinem Tod ist eine gewaltige Stimme Anatoliens
verstummt.