junge Welt vom 03.09.2005   Wochenendbeilage

Ein Schritt vorwärts

Vor 90 Jahren versammelten sich Kriegsgegner zur internationalen sozialistischen Konferenz im Schweizer Bergdorf Zimmerwald

Nick Brauns   Als im zweiten Kriegsjahr 1915 bereits Millionen Männer an allen Fronten gefallen waren, machte sich zunehmend Unzufriedenheit in den Völkern Europas breit. Auch innerhalb der sozialdemokratischen Parteien, deren Führer zu Kriegsbeginn mit wehenden Fahnen auf die Seite der kapitalistischen Kriegstreiber übergegangen waren, gärte es. Italienische und Schweizer Sozialisten bereiteten daraufhin im Sommer 1915 eine internationale sozialistische Konferenz der Kriegsgegner vor.

Als Tagungsort für die vom 5. bis 9. September dauernde Konferenz hatte der Berner Nationalrat Robert Grimm das zehn Kilometer von Bern gelegene Bergdorf Zimmerwald gewählt. 38 Vertreter sozialdemokratischer Parteien oder parteiinterner Oppositionsgruppen aus zwölf Ländern nahmen an der Konferenz teil. Ein halbes Jahrhundert nach Gründung der I. Internationale sei es möglich, alle Internationalisten Europas in vier Pferdekutschen unterzubringen, scherzten die Delegierten auf dem Weg ins Gebirge.

Bereits vor Konferenzbeginn versammelte der als Emigrant in der Schweiz lebende Lenin einige Vertreter der marxistischen Linken zur Ausarbeitung eigener Anträge. Die russischen Bolschewiki Lenin und Grigori Sinowjew, Karl Radek für die polnische Partei, der Herausgeber der linksradikalen Zeitschrift Lichtstrahlen aus Deutschland Julian Borchardt, der Schweizer Fritz Platten, der Lette Jan Bersin, der Schwede Zeth Höglund und der Norweger Ture Nerman bildeten die Strömung der Zimmerwalder Linken.

Richtungsstreit

Zur Kontroverse kam es um die Frage, wieweit die Konferenz konkrete Aktionen zum Kampf gegen den Krieg vorschlagen solle. »Man kann nicht Revolution machen wollen, ohne die revolutionäre Taktik zu erläutern«, kritisierte Lenin abstrakte Friedensbekundungen der Pazifisten. »Für den Frieden sein hat an sich keine Bedeutung. ... Wir müssen der neuen Situation gemäß neue, originelle Kampfmittel schaffen.« Die Linken propagierten Aktionsformen wie die Ablehnung der Kriegskredite, die Entlarvung des imperialistischen Charakters des Krieges im Parlament und in der Presse, die schonungslose Entlarvung des Sozialchauvinismus der rechten Sozialdemokraten, die Ausnutzung jeder von den Kriegsfolgen ausgelösten Protestbewegung zur Organisierung von Antikriegsdemonstrationen, die Propagierung der Verbrüderung in den Schützengräben, die Förderung von wirtschaftlichen Streiks und deren Überführung in politische Kämpfe. »Die Aufgabe der Sozialisten ist es, ... die Umwandlung des imperialistischen Krieges zwischen den Völkern in den Bürgerkrieg anzustreben, in den Krieg der unterdrückten Klassen gegen ihre Unterdrücker, mit dem Ziel der Expropriation der Kapitalistenklasse, der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, der Verwirklichung des Sozialismus.« Der Resolutionsentwurf der Linken wurde von der pazifistischen Mehrheit mit 19 gegen zwölf Stimmen abgelehnt.

Die Halbherzigkeit der Pazifisten, die den Krieg zwar in Worten, nicht aber in Taten bekämpften, zeigte sich deutlich im Verhalten Georg Ledebours. Ultimativ verlangte der SPD-Reichstagsabgeordnete die Streichung eines Antrages, wonach sozialistische Abgeordnete obligatorisch gegen Kriegskredite zu stimmen hätten.

Zwar prangerten alle Delegierten die Lüge der Kapitalisten von der angeblichen Vaterlandsverteidigung an. Doch die pazifistischen Sozialdemokraten weigerten sich, auch die Führer der II. Internationale in diese Kritik einzubeziehen, die sich wie die deutsche SPD-Führung diese Losung zu eigen gemacht hatten. In keiner Weise dürfe der Anschein erweckt werden, als wolle die Zimmerwalder Konferenz die Spaltung herbeiführen und eine neue Internationale gründen, lehnten die Vertreter des pazifistischen Flügels einen organisatorischen Bruch mit den Kriegsbefürwortern innerhalb der Sozialdemokratie ab.

Trotz aller Kritik an der Halbherzigkeit des Textes unterschrieben auch die revolutionären Linken das von Leo Trotzki als Kompromiß zwischen dem revolutionären und dem pazifistischen Flügel verfaßte Zimmerwalder Manifest. »Daß dieses Manifest einen Schritt vorwärts macht zum wirklichen Kampf gegen den Opportunismus, zur Spaltung und zum Bruch mit dem Opportunismus, ist eine Tatsache«, begründete Lenin seine Unterschrift. »Es wäre Sektierertum, wollte man darauf verzichten, gemeinsam mit der Minderheit der Deutschen, Franzosen, Schweden, Norweger und Schweizer diesen Schritt vorwärts zu machen, solange wir uns die volle Freiheit und die volle Möglichkeit wahren, die Inkonsequenz zu kritisieren und mehr anzustreben.«

Festigung der Linken

Schließlich fand eine Solidaritätsbekundung mit den verfolgten Genossen einstimmige Annahme, in der unter anderem der zum Kriegsdienst gezwungene Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht und die wegen ihrer sozialistischen Überzeugung eingekerkerten Rosa Luxemburg und Clara Zetkin genannt wurden.

Das Signal von Zimmerwald war ein starker Antrieb für die internationale Antikriegsbewegung. In den sozialdemokratischen Parteien Europas und der USA bildeten sich Oppositionsgruppen im Geiste des Zimmerwalder Manifests. Auf einer Folgekonferenz im Schweizer Kienthal im April 1916 konnten die revolutionären Linken bei mehreren Abstimmungen bereits fast die Hälfte der 42 Teilnehmer von ihren Positionen überzeugen.

Die wirkliche Bedeutung von Zimmerwald bestand darin, daß auf dieser Konferenz ein ideologischer und organisatorischer Zusammenschluß der konsequenten Revolutionäre zur Zimmerwalder Linken erfolgte. »In Zimmerwald spannte Lenin die Feder scharf an für die späteren internationalen Handlungen. In dem schweizerischen Bergdörfchen legte er die ersten Grundsteine für die revolutionäre Internationale«, schrieb Trotzki, dessen Annäherung an die Bolschewiki in Zimmerwald begann, in seiner Autobiographie.

Quellentext: Aus dem Zimmerwalder Manifest

Proletarier Europas!

Mehr als ein Jahr dauert der Krieg. Millionen von Leichen bedecken die Schlachtfelder, Millionen von Menschen wurden für ihr ganzes Leben zu Krüppeln gemacht. Europa gleicht einem gigantischen Menschenschlachthaus. Die ganze, durch die Arbeit vieler Generationen geschaffene Kultur ist der Verwüstung geweiht. Die wildeste Barbarei feiert heute ihren Triumph über alles, was bis jetzt den Stolz der Menschheit ausmachte.

Welches auch immer die Wahrheit über die unmittelbare Verantwortung für den Ausbruch dieses Krieges sei – das eine steht fest: Der Krieg, der dieses Chaos erzeugte, ist die Folge des Imperialismus, des Strebens der kapitalistischen Klassen jeder Nation, ihre Profitgier durch die Ausbeutung der menschlichen Arbeit und der Naturschätze des ganzen Erdballs zu nähren. [...]

In dieser unerträglichen Lage haben wir, die Vertreter der sozialistischen Parteien, Gewerkschaften und ihrer Minderheiten, wir Deutsche, Franzosen, Italiener, Russen, Polen, Letten, Rumänen, Bulgaren, Schweden, Norweger, Holländer und Schweizer, wir, die nicht auf dem Boden der nationalen Solidarität mit der Ausbeuterklasse, sondern auf dem Boden der internationalen Solidarität des Proletariats und des Klassenkampfes stehen, uns zusammengefunden, um die zerrissenen Fäden der internationalen Beziehungen neu zu knüpfen und die Arbeiterklasse zur Selbstbesinnung und zum Kampfe für den Frieden aufzurufen.

Dieser Kampf ist der Kampf für die Freiheit, für die Völkerverbrüderung, für den Sozialismus. Es gilt, dieses Ringen um den Frieden aufzunehmen, für einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen. [...] Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muß unerschütterlicher Grundsatz in der Ordnung der nationalen Verhältnisse sein.

Proletarier! Seit Ausbruch des Krieges habt ihr eure Tatkraft, euren Mut, eure Ausdauer in den Dienst der herrschenden Klassen gestellt. Nun gilt es, für die eigene Sache, für die heiligen Ziele des Sozialismus, für die Erlösung der unterdrückten Völker wie der geknechteten Klassen einzutreten durch den unversöhnlichen proletarischen Klassenkampf.

Aufgabe und Pflicht der Sozialisten der kriegführenden Länder ist es, diesen Kampf mit voller Wucht aufzunehmen, Aufgabe und Pflicht der Sozialisten der neutralen Staaten, ihre Brüder in diesem Ringen gegen die blutige Barbarei mit allen wirksamen Mitteln zu unterstützen.

Niemals in der Weltgeschichte gab es eine dringendere, eine höhere, eine erhabenere Aufgabe, deren Erfüllung unser gemeinsames Werk sein soll. Kein Opfer zu groß, keine Last zu schwer, um dieses Ziel: den Frieden unter den Völkern zu erreichen.

Arbeiter und Arbeiterinnen! Mütter und Väter! Witwen und Waisen! Verwundete und Verkrüppelte! Euch allen, die ihr vom Kriege und durch den Krieg leidet, rufen wir zu: Über die Grenzen, über die dampfenden Schlachtfelder, über die zerstörten Städte und Dörfer hinweg, Proletarier aller Länder vereinigt euch!

* aus: Leo Trotzki: Denkzettel – Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, Frankfurt a.M. 1981, 83–87

 

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